Fabelverzeichnis
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Der Marner
13. Jahrhundert in Schwaben

Er war ein Wanderdichter und Sänger, der in seinen Texten eine solide Schulbildung
erkennen lässt.
1270, wahrscheinlich während des Interregnums, ermordet.
Er verfasste Minnelieder, auch fünf lateinische Dichtungen hat er hinterlassen.
Seine Lieder sind in den Jahren zwischen 1220 und 1270 entstanden.
Der tatsächliche Name ist nicht überliefert.

Der Marner wurde zu den zwölf alten Meistern gezählt

 
Guot wahter wîs
 
Lieber kluger Wächter
 
1.
»Guot wahter wîs,
dû merke wol die stunt,
sô die wolken verwent sich
und werdent grîs:
die zît tuo mir kunt,«
sprach ein frouwe minneclich.
»Warne ob ich entslâfen bin,
sô daz der ritter vor der argen huote kume hin;
kius den morgensterne,
sanc der kleinen vogellîn.
ich waere gerne
langer hie; des mac niht sîn.
er liebet wol dem herzen mîn.«

2.
Der wahter schiet
oben ûf die zinne dan.
dô der tac die wolken spielt,
ein tageliet
in der wîse vienc er an:
»saelde ir beider mâze wielt.
Troie wart zerstoeret ê,
Tristranden wart von minne Isalden dicke wê,
noch hât Minne werden
man, der wirbet frouwen gruoz,
dem sol er werden,
ob ich alsus warten muoz:
ez ist vor tage nicht einen vuoz.«

3.
Diu liebe entslief,
wan si was vermüedet sô,
daz diu frouwe zuo dem man
sich umbeswief.
wahte dâ diu minne dô,
sô kumt wol der ritter dan.
Minne lache, unminne habe
unminne; entsliuz dû, Minne, tuo daz slôz mit fuogen abe.
diu zît meldet, melde
kumt, diu selten ie gelac.
an minne gelde
hât unminne noch bejac.
»nû wol ûf, ritter, ez ist tac.«

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1.
»Lieber kluger Wächter,
gib genau acht auf die Zeit,
wenn die Wolken sich verfärben
und grau werden,
und melde es mir,«
sagte eine liebreizende Dame.
»Warne uns, wenn ich eingeschlafen bin,
damit der Ritter unbemerkt von den feindseligen
Aufpassern davonkommt. Achte auf den
Morgenstern und den Gesang der kleinen Vögel.
Ich bliebe gern länger hier,
aber das ist unmöglich.
Er gefällt mir sehr.«

2.
Der Wächter stieg
daraufhin auf die Zinne hinauf.
Als der Tag durch die Wolken drang,
begann er folgendes
Tagelied zu singen:
»Diese beiden hielten Maß in ihrem Liebesglück.
Troja hingegen wurde erstmals zerstört, und
Tristan stürzte die Liebe zu Isolde häufig in tiefes
Leid. Noch hält die Liebe einen edlen Mann fest,
der um die Zuneigung einer Frau wirbt.
Die soll er erhalten,
wenngleich ich erkennen kann,
es wird bald Tag.«

3.
Die Geliebte war eingeschlafen,
denn sie war nach dem Liebesspiel sehr müde
geworden. Wäre sie wach, käme der Ritter
wohlbehalten davon.
Wahre Liebe soll fröhlich sein,
falsche Liebe sei verhaßt.
Löse du, Frau Minne, ihre innige Umarmung
auf angemessene Weise.
Es ist soweit, Frau Melde kommt,
die noch niemals geruht hat.
Bei einer kostbaren Liebe sind Haß
und Feindschaft immer noch auf Beute aus.
»Steht jetzt auf Ritter, es ist Tag.«

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Sing ich dien liuten mîniu liet
 
Singe ich den Leuten meine Lieder
 
Sing ich dien liuten mîniu liet,
sô wil der êrste daz
wie Dieterîch von Berne schiet,
der ander, wâ künc Ruother saz,
der dritte wil der Riuzen sturm, sô wil der vierde Ekhartes nôt,
Der fünfte wen Kriemhilt verriet,
dem sehsten taete baz
war komen sî der Wilzen diet.
der sibende wolde eteswaz
Heimen ald hernWitchen sturm, Sigfrides ald hern Eggen tôt.
Sô wil der ahtode niht wan hübschen minnesanc.
dem niunden ist diu wîle bî den allen lanc.
der zehend enweiz wie,
nû sust nû sô, nû dan nû dar, nû hin nû her, nû dort nû hie.
dâ bî haete manger gerne der Nibelunge hort.
der wigt mîn wort
ringer danne ein ort:
des muot ist in schatze verschort.
sus gât mîn sanc in manges ôre, als der mit blîge in marmel bort.
sus singe ich unde sage iu, des iu niht bî mir der künec enbôt.


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Singe ich den Leuten meine Lieder,
so wünscht der erste zu hören,
wie Dietrich von Bern ins Exil ging,
der andere, wo König Rother saß;
der dritte möchte vom Russen-Kampf hören, der vierte Eckharts Not,
der fünfte, wen Kriemhild verraten hat,
dem sechsten wäre es am liebsten zu hören,
was aus den Wilzen geworden sei;
der siebte möchte etwas hören
vom Kampf Heimes oder Herrn Witichs, vom Tod Siegfrieds oder Eckes.
Der achte jedoch wünscht nur höfischen >Minnesang<.
Dem neunten aber wird es bei allem langweilig.
Der zehnte kann sich nicht entscheiden:
mal so, mal anders; mal hier, mal da; mal hin, mal her; mal dort, mal hier.
Mancher besäße gerne etwas vom Niebelungen-Hort:
Der schätzt meine Worte ganz gering ein:
sein ganzes Denken ist auf Geld gerichtet.
So dringt mein Gesang vielen ins Ohr,
wie wenn jemand mit Blei in Marmor bohrt. So singe und sage ich euch,
was für euch bei mir nicht der König verlangt hat.

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Quelle:
©Reclam 1993 Deutsche Gedichte des Mittelalters
Ausgewählt, übersetzt und erläutert von ©UlrichMüller/©Gerlinde Weiss

 
Spottlied auf Reinmar von Zweter. Wahrscheinlich hat der Marner in Reinmar am Rhein einen Konkurrenten gefunden, den er mit Bitterkeit bekämpft.
Der Vorwurf ist sehr hart, quasi plagiathaft gedichtet zu haben, ein >Töne-Dieb< zu sein und eine schiefe Phantasie zu besitzen.

 
Wê dir von Zweter Regimâr!
 
Weh dir, Reinmar von Zweter!
 
Wê dir von Zweter Regimâr!
dû niuwest mangen alten funt.
dû speltest als ein milwe ein hâr,
dir wirt ûz einem orte ein pfunt,
ob dîn liezen dich niht triuget.
dir wirt ûz einem tage ein jâr,
ein wilder wolf wirt dir ein hunt,
ein gans ein gouch, ein trappe ein star,
dir spinnet hirz dur dînen munt:
wâ mit hâstû daz erziuget?
ein lüg dur dîne lespe sam ein slehtiu wârheit vert.
dû hâst den vischen huosten, krebzen sât erwert.
bî dir sô sint driu wundertier:
daz ist der gît,
haz unde nît.
dû dœnediep,
dû briuwest âne malz ein bier:
supf ûz! ir ist ein lecker liep,
der den herren vil geliuget.

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Weh dir, Reinmar von Zweter!
Du möbelst so manches alte Lied wieder neu auf.
Du spaltest wie eine Milbe ein Haar auf,
du machst aus einem Viertel ein Pfund,
wenn deine Wahrsagerei dich nicht trügt.
Dir wird aus einem Tag ein ganzes Jahr,
ein Wolf wird dir zu einem Hund,
eine Gans ein Kuckuck, eine Trappgans ein Star,
dir spinnt der Hirsch dank deinem Mund:
womit kannst du das beweisen?
Eine Lüge fährt über deine Lippen wie eine schlechte Wahrheit.
Du hast den Fischen Husten, den Krebsen Samenkorn verweigert.
Bei dir sind drei Wundertiere:
das ist der Geiz,
Haß und Neid.
Du Tönedieb,
du brauest ohne Malz ein Bier:
Sauf aus! Dem wird eine leckere Freude zuteil,
der den Herren viele Lügen aufgetischt hat!


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Ameisenlied.
Es gilt, seelsorgerische Vorsorge auf Erden zu treffen, damit dereinst der rechte Weg zum ewigen Leben im Jenseits gesichert ist.

 
Merkent an die kleine âmeiz
 

 
Merkent an die kleine âmeiz:
sô si den winter vor ir weiz,
samnet in des sumers ernde kündeclîche ir spîse.
sam tuo, dû mensche, und bûwe enzît.
ein starker winter ûf dir lît,
der machet dich in sorgen alt und in dem alter grîse.
dû macht hie bûwen unde sæn
mit guoten werken gegen gote und dînem ebenkristen
daz dû maht snîden unde mæn
und ouch dich dort gein dînem hôhen hêrren maht gefristen,
sô dû den zins ze hove gîst,
die sêle gote, und dû in armen melwe begraben lîst:
dû schaffez sô, daz dîn diu sêle warte im paradîse.


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Merkt an der klugen Ameise:
wenn sie weiß, der Winter steht bevor,
sammelt sie mit der Sommerernte voraussorgend ihre Nahrung.
Genau so verhalte dich, du Mensch, und bestelle rechtzeitig das Feld.
Ein schwerer Winter liegt vor dir,
der macht dich mit Sorgen traurig und im Alter grau.
Du kannst hier das Feld bestellen und säen
und zwar mit guten Werken gegenüber Gott und deinen Mitchristen,
indem du ernten kannst und mähen
und dich auch gegenüber deinem Patron behaupten kannst,
wenn du den Zins am Hofe ablieferst,
die Seele aber Gott. Und wenn du einst im grauen Staub begraben darnieder liegst:
richte du es so ein, daß deine Seele Anwartschaft habe im Paradies.


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Ez nâhet gein der suone tage
 
Es naht die Zeit des Jüngsten Gerichts
 
Ez nâhet gein der suone tage,
daz got wil süenen alle klage.
wir haben niht gewisses für des tôdes offenunge.
wiltû dem tôde entrinnen dort,
sich mensch, vernim daz gotes wort,
erfülle mit den werken, daz dû sprichest mit der zunge.
wie snel ist eines ougen blic,
sô snel ist dâ ze Jôsaphat des algerihtes ende.
die rehten füerent dâ den sic,
sô windent die vertânen dâ vil jæmerlîch ir hende.
die müezen in des tievels kewen;
dâ sint si lebende in jâmer tôt von êwen unze êwen.
dâ samne uns gotes güete zuo der rehten samenunge.

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Es naht die Zeit des Jüngsten Gerichts,
an dem Gott alle Not beseitigen wird.
Wir haben keine Gewißheit über den Eintritt des Todes.
Willst du dem Tod dann dort entrinnen,
wache auf, Mensch, vernimm Gottes Wort,
erfülle mit Werken, was deine Zunge versprochen hat.
Wie schnell ist doch ein Augenblick —
so schnell ist dann das Weltgericht da.
Die Rechtschaffenen bestehen sie siegreich,
während die Verfluchten in Jammer ihre Hände flechten.
Sie müssen in den Rachen des Teufels;
dort sind sie in ihren Jammer lebendig tot auf alle Ewigkeit.
Gottes Güte möge uns dort zur ewigen Vereinigung zusammen führen.

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Lebt von der Vogelweide
 
Ach, lebte doch der von der Vogelweide
 
Lebt von der Vogelweide
noch, mîn meister hêr Walthêr,
der Venis, der von Rugge, zwêne Regimâr.
Heinrich der Veldeggære, Wahsmuot, Rubîn, Nîthart!
Die sungen von der heide.
von dem minnewerden her,
von den vogeln, wie die bluoem sint gevar:
sanges meister lebent noch: si sint in tôdes vart.
die tôten mit den tôten, lebende mit den lebenden sîn!
ich vorder ie zuo ze geziuge
von Heinberc den herren mîn
- dem sint rede, wort und rîme in sprüchen kunt, -
daz ich mit sange nieman triuge.
lîhte vinde ich einen vunt,
den si vunden hânt, die vor mir sint gewesen.
ich muoz ûz ir garten und ir sprüchen bluomen lesen.


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Ach, lebte doch der von der Vogelweide
noch, mein Meister, Herr Walther,
Rudolf von Fenis, der von Rugge, zwei Reinmare,
Heinrich von Veldecke, Wahsmuot, Rubin, Neidhart!
Die sangen von der Heide,
von der liebenswürdigen Schar (der Damen),
von den Vögeln und wie die Blumen gemustert sind:
die Meister der Sangeskunst leben noch: sie stehen aber am Rande des Todes.
Die Toten sollen mit den Toten, die Lebenden mit den Lebenden sein.
Ich nominiere schon immer als Zeugen
den von Heinberg, meinen Herren
-dem sind Vorträge, der Inhalt und die Strophenform meiner Sangsprüche bekannt,-
daß ich mit meiner Sangeskunst niemand betrüge.
Leicht mache ich einen (Dichter) aus, den (meine)
Vorgänger schon für sich entdeckt haben.
Ich muß aus ihren Gärten und ihren Sangsprüchen die Kostbarkeiten herauslesen.

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Die tier zesamen kâmen
 
Die Tiere kamen zusammen
 
Die tier zesamen kâmen,
und wolten einen künec weln:
eln und ûren, wisent und helfant, lewen unt bern,
hirz und einhorn. swaz vier beine hât, des kam vil aldar
mislîchen kriec sie nâmen,
des enkam ich niht erzeln.
ein krote diu kam ouch dar; diu wolte niht enbern,
si wære an der wal. des nâmn die tier dur spotten war.
si sprach: »ich hân ouch vier bein, ich wil daz künicrîch.«
der lewe sprach: >bôsheit, var verwâzen!
dû bist tieren niht gelîch.<
noch grôzer si sich blât, hie mite si gar zerbarst.
diz bîspel kumt nû den ze mâzen,
die êren gernt und sint ir gast,
dâ von daz natûre an in niht tugende treit;
swâ frô Êre wol gevert, daz ist frô Schanden leit.

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Die Tiere kamen zusammen
und wollten einen König wählen:
Elche und Auerochsen, Wisent und Elephant, Löwen und Bären,
Hirsch und Einhorn. Alles was vier Beine hat, kam dahin.
Unangenehmen Streit hatten sie,
von dem ich nichts erzählen will.
Eine Kröte kam auch hinzu; die wollte darauf verweisen,
sie wäre an der Wahl. Nur mit Spott vernahmen das die Tiere.
Sie sagte: »Ich habe auch vier Beine, ich will das Königreich.«
Der Löwe sprach: >Bosheit, sei verflucht!
Du bist den Tieren nicht gleich.<
Noch mehr blähte sie sich auf, wodurch sie ganz zerplatzte.
Diese Fabel kommt denen entgegen,
die nach Ehre verlangen und ihr willkommen sind
und deren Natur sie nicht hindert, Tugenden zu haben:
wo immer es Frau Ehre gut geht, geschieht Frau Schande Leid.

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Ein Lügenlied
 
Wer kan den liuten lüge erwern?
 
Wer vermag den Menschen die Lüge zu verbieten?
 
Wer kan den liuten lüge erwern?
lüg ist ein alter hort;
mit lüge muoz sich vil maneger nern.
lüg hât gestiftet mangen mort.
lüg hât einen argen vater,
lüg hât tumber kinde vil.
lüg hât sich als ein weich wahs bern;
lüg hât vil süeziu wort,
mit lüge kan manger eide swern.
lüg hât manic spitzic ort:
lüge ist ein vil snellez übel, lüg ist der bœsen geiste spil.
lüge ist in dem wazzer, lüge ist komen über mer,
lüg hât gein der wârheit ein vil breitez her,
lüg kumt an bâbest tür,
lüg wont ouch schœnen frouwen bî, man treit ouch lüge den vürsten für.
lüg ist in dörfen und in bürgen, lüge ist in der stat.
lüg hât den pfat den der tiuvel trat,
dô er Âdâmen ezzen bat
den apfel: lüg gît mangem schâch, lüg spilt ûf maneges tôren mat.
lüg hât sâmen unde krût,
des wurze niht erdorren wil.

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Wer vermag den Menschen die Lüge zu verbieten?
Lüge ist ein lang aufgehäufter Schatz;
mit Lüge müssen viele ihr Brot verdienen.
Lüge hat so manchen Mord verursacht.
Lüge hat einen bösen Vater, Lüge hat viele törichte Kinder.
Lüge läßt sich wie weiches Wachs formen;
Lüge kennt viele verführerische Worte;
mit Lüge können manche Eide schwören.
Lüge hat viele markante Orte:
Lüge breitet sich sehr rasch aus, Lüge ist böser Geister Zeitvertreib.
Lüge ist im Wasser, Lüge ist übers Meer zu uns gekommen,
Lüge bietet gegen die Wahrheit eine starke Streitmacht auf,
Lüge dringt bis zum Papst vor,
Lüge ist auch schönen Frauen eigen, Lüge trägt man auch den Fürsten vor.
Lüge ist in Dörfern und Burgen, Lüge ist in der Stadt.
Lüge ist von der Art,
die der Teufel verfolgte,
als er Adam zum Essen des Apfels verführte:
Lüge bietet manchem Schach, Lüge ist auf das Matt manches Toren aus.
Lüge hat Samen und Blätter,
deren Wurzel nicht verdorren wird.

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Ein Marienlied
 
Dû blüende gerte Arônes
 
Du blühender Zweig Aarons
 
Dû blüende gerte Arônes,
diu sünde nie bekort,
dû sippe Salomônes;
die dîn geburt schuof uns ein wort.
der werlte hort; dû trüege ân alle swære.
daz was der werde reine,
der süeze Altissimus,
den dû geboren al eine,
und leitest an in manegen kus.
er schuof ez sus, daz dû meit in gebære.
wol uns, daz er ie wart geborn!
ûz al der werlte hât er dich ze muoter im erkorn.
von dîner liebe wart versüenet der alte zorn,
den uns Êvâ brâhte ân alle schulde.
da genuzzen wird der güete dîn:
des muoz dîn lop im himelrîch vor allen megden sîn.
dû bist ein helfærîn uns, frouwe mîn,
daz wir verdienen dînes kinde hulde.

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Du blühender Zweig Aarons,
die du Sünde nie kanntest,
du, aus der Familie Salomons;
deine Geburt schenkte uns Segen.
Du, Schatz der Welt, du wurdest ohne alle Beschwernis schwanger.
Das war der kostbare Reine,
der liebliche Allerhöchste,
den du ganz allein gebarst
und ihn mit vielen Küssen bedachtest.
Gepriesen seien wir, daß er je geboren wurde!
Gott bewirkte, daß du als Jugfrau ihn gebären sollst.
Aus der gesamten Menschheit hat er dich als Mutter für ihn erwählt.
Deine Liebe sühnte die alte Last,
die uns Eva ohne Absicht auf uns brachte.
Da kamen wir in den Genuß deiner Güte:
deshalb gebührt dir Preis im Himmel vor allen Jungfrauen.
Du bist eine Helferin; nun hilf uns, meine Herrin,
daß wir die Gnade deines Kindes verdienen.

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Sünder, besich die strâzen
 
Sünder, sieh dir die Straßen
 
Sünder, besich die strâzen
in der werlte, war sî gân,
wannen dû sîst komen ald wie dîn leben sî,
war dû wellest, sô dû mit der werlte für dich verst.
sich, wie si hât gelâzen
die, die si niht wolden lân:
lâ diu werlt, ir wont ein bitter ende bî;
sich für dich die strâze, wie dû die zem tôde kêrst.
sich hinder dich, wie nôt dir von dem reinen schepfer ist,
des lîp sich an das kriuze hêre
für unsich bôt, der süeze Krist.
wiltû des gedenken, waz er dur dich leit,
sich über dich, waz wunne und êre
dir ze himel ist bereit;
under dir besich die iemerwernden nôt
in der helle; schiuhe und fliuch den êweclîchen tôt.

 
Sünder, sieh dir die Straßen
in der Welt an, wohin sie führen,
woher du gekommen bist oder wie dein Leben verläuft,
wohin du willst, wenn du dich mit der Welt einläßt.
Sieh doch, wie hat sie diejenigen im Stich gelassen,
die nicht von ihr ablassen wollten:
laß die Welt, ihr ist ein bittres Ende eigen;
sieh vor die Straße, die du zum Tode wählst.
Sieh hinter dich, wie nötig du den Schöpfer hast,
dessen Leib um unsretwillen an das hohe Kreuz
sich darbot, der herrliche Christ.
Wenn du das bedenkst, was er um deinetwillen litt,
dann sieh über dich, was an Freuden und Ehre
für dich im Himmel bereitet sind;
sieh unter dir die immerwährende Qual
in der Hölle; meide und fliehe den ewigen Tod.

 
Quelle:
©Marix/ Deutsche Lyrik des Mittelalters/2005/Herausgegeben und kommentiert.©Manfred Stange

 
Sich fröit der luft, daz wazzer
 
Es freuen sich die Luft, das Wasser
 
1.
Sich fröit der luft, daz wazzer
mit viure, diu erde und diu zît.
Junc man, des bist dû lazzer,
sin stiure dir allez daz gît.
Lieb ist wilder creatûre zwein und zwein gemeine.
wan dû bist der werden minne liebes âne und eine.
minne ist unstaste bî.
swâ sich der rôse erzeiget,
dâ reiget der dorn an daz zwî.

2.
Diu zît mit fröiden büezet
der ouwe, daz trûric si was.
Meie die heide grüezet,
in touwe Stent bluomen und gras.
Wîz blâ gel brûn grüene rôt der anger stet geblüemet,
dâ bî sich diu linde breit ir grüenen loubes rüemet,
dœnet diu nahtegal,
tröschel, lerche und kalander
und ander gefügel süezen schal.

3.
Ich wil die minne strâfen,
si swachet ir êren ein teil.
Swâ si wol solde slâfen,
dâ wachet si ûf ir unheil.
Ich tuon ir mit rede gewalt. daz ist ir widerwinne,
si vert ûzerthalp der mâze und ist genant unminne.
minne ist unstæte frî.
swâ sich diu rôse erzeiget,
dâ reiget der dorn an daz zwî.

4.
Schimpfwort, schimpflîchez lachen
diu minne für guot von dir nimet.
Niemans in schimpfe swachen,
der sinne die minne gezimet.
Minne gît zwei lieben einen muot und eine triuwe,
wan daz, ieslîch varwe ist gelfer in ir blüenden niuwe.
lieb wirt niht anders leit.
golt swînet an der hende,
seih ende der minne ist bereit.

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1.
Es freuen sich die Luft, das Wasser,
das Feuer, die Erde und die Zeit.
Junger Mann, nur du bleibst träge,
obgleich dies alles doch dich stützt und lenkt.
Liebe ist bei wilden Kreaturen zwein und zwein gemein.
Du nur bist von Lust an edler Minne frei und einsam.
Minne gibt's nicht ohne Unbeständigkeit.
Wo sich die Rose zeigt,
da reihen sich Dornen am Zweig.

2.
Die Zeit macht an der Au
durch Freude wieder gut, daß sie traurig war.
Der Mai grüßt die Heide,
betaut stehen Blumen und Gras. Voller Blüten,
weiß, blau, gelb, braun, grün und rot, ist der Anger,
wo die breite Linde prunkt mit ihrem grünen Laub,
wo die Nachtigall,
Drossel, Feld- und Haubenlerche
und andre Vögel süße Melodien singen.

3.
Ich will die Minne schelten,
sie achtet etwas zu wenig auf ihre Ehre.
Da, wo sie besser ruhen sollte,
da wird sie wach zu unheilvollem Tun.
Nein, ich tu ihr Unrecht. Das ist ihr Widerpart:
Die so jedes Maß verläßt, die heißt Unminne.
Minne ist frei von Unbeständigkeit.
Wo sich die Rose zeigt,
da reihen sich Dornen am Zweig.

4.
Scherzworte, scherzendes Lachen
hält dir die Minne zugute.
Niemand im Scherz zu verletzen,
die Haltung fügt sich zur Minne.
Minne gibt zwei Liebenden Einklang und Aufrichtigkeit,
nur daß jede Farbe glänzender ist, wenn sie neu erblüht.
Nicht anders wird Liebe zu Leid:
Gold zerrinnt in den Händen,
solch Ende ist der Minne beschieden.

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Wie höfsche Hute habe der Rîn
 
Wie fein und höfisch die Leute am Rhein sind
 
Wie höfsche Hute habe der Rîn,
daz ist mir wol mit schaden kunt.
ir hûbe, ir hâr, ir keppelîn
erzeigent niuwer fünde funt.
krist in helfe, sô si niesen.
Ez mac wol curteis povel sîn,
pittit mangier ist in gesunt.
stad ûf, stad abe in wechset wîn,
in dienet ouch des Rînes grünt
(ich wil ûf si gar verkiesen):
Der Ymelunge hort lît in dem Lurlenberge in bî.
in weiz ir niender einen, der sô milte sî,
daz er den gernden teilte mite
von sîner gebe.
die wîle ich lebe,
sin vriî vor mir.
ir muot der stât ûf solhen site:
nu gip dû mir, sô gibe ich dir.
sine wellent niht verliesen.

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Wie fein und höfisch die Leute am Rhein sind,
das hab ich zu meinem Schaden erfahren.
Ihre Mützen, Frisuren und Mäntelchen
zeigen die neueste Mode.
Wenn sie niesen, heißt es: >Helf Euch Christus!<
Es ist wohl ein peuple courtois,
manger peu scheint ihnen gesund.
Flußauf, flußab wächst ihnen Wein,
und selbst der Boden des Rheins dient ihnen
(ich will mir da nichts mehr erhoffen):
Der Nibelungenhort liegt nah bei ihnen im Loreleiberg.
Ich kenne unter ihnen keinen, der so gütig wäre,
denen, die darauf angewiesen sind,
von dem, was sein ist, etwas abzugeben.
Solang ich lebe,
sollen sie vor mir Ruhe haben.
Ihr Sinn folgt nur der einen Regel:
Gib du mir, dann gebe ich dir.
Sie wollen ja nichts verlieren.

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Du hôch gelobter megde kint
 
Du Sohn der hochgelobten Jungfrau
 
1.
Du hôch gelobter megde kint,
got, herre, vater, Krist,
vil grôz gegen dir mîn schulde sint.
dur dîne güete gip mir vrist,
unz ich gebüeze wider dich die mînen grôzen missetât!
Mîn herze was gegen dir ie blint
und noch vil leider ist.
die sünde wâren mir ein wint.
gedenke, hêrre, daz du bist,
der umb unsich sündic armen grôze nôt erliten hât.
Dîn angestlîchen tôt lâ niht an uns verlorn sin.
gip, hêrre, mir den sin reht in daz herze mîn,
daz ich gelebe alsô
in dînem dienste hie, daz mîn der tiuvel dort iht werde vrô,
sô wir zesamen komen ûf den jungestlîchen tac,
dâ nieman mac
erwenden dinen slac.
dâ rich niht, hêrre, ob ich verlac
dîn hôch gebot, daz ich noch ie
in mînem herzen ringe wac.
durch dïnen tôt hilf mir, daz der armen sêle werde rât.

2.
Got gît sîn gâbe, swem er wil.
er hât iu lîp gegeben
und in der kintheit sælden vil.
des sunt ir iuch niht überheben.
erent ritter, minnent frouwen,
grüezent arme gernde diet!
Iu ist gesetzet ûf ein zil,
seht für iuch unde neben
und spilt ez ûf der êren spil!
behüget an iuwer vordern leben,
der vil maniger krône truoc,
biz in der tôt von leben schiet.
Der iu dienet, dem sunt ir genâden sîn bereit,
iu sî der witwen und der weisen kumber leit.
hânt die Tiutschen wert!
in iuwerm herzen minnent got,
sô tuot er durch iuch, swes ir gert.
verdienet Âkers, künic rîch, und ouch Cecilien lant!
Swâben ist bekant
in iuwer hant
(herzoge sît ir dâ genant),
swaz Egerlant der gülte hât
und Nürenberc Hute und der Sant.
wil ez got, iu kumt noch ûf daz houbet
rœmsche krône wert.

3.
Swelch fuhs sich sînes mûsens schamt,
der muoz verderben doch.
diu mûs hât ein vil swachez amt,
ehert in ein frömdez loch.
siecher arzât, armer wîssag, leider gast die sint unwert.
Swer wilden marder in schôzen zamt
und leit dem lewen ein joch,
ob im sîn hant dâ niht erlamt,
sû mac er doch wol sprechen >och<.
ohsen krûne zimt niht wol
noch in des zagen hant guot swert.
Münches tanzen, nunnen hübescheit und des affen zagel,
des meien rîfe und in dem ougeste ein starker hagel
mir selten wol behaget,
ûz rîchen mannes munde lüge,
und swâ den bern ein eichorn jaget.
mich wundert armiu hûchvart, und ist alter man unwîs.
der werlte prîs
smilzet sam ein îs.
liebem kinde ist guot ein rîs.
swer âne vorhte wahset, der muoz sunder êre werden grîs.
bî disen mæren stât ez hiure michels bœser danne vert.

4.
Sing ich den liuten mîniu liet,
sô wil der êrste daz,
wie Dieterîch von Berne schiet,
der ander, wâ künic Ruother saz;
der dritte wil der Riuzen sturm,
sô wil der vierde Eggehartes nôt,
Der fünfte, wen Kriemhilt verriet;
dem sehsten tæte baz,
war komen sî der Wilzen diet;
der sibende wolde eteswaz
Heimen ald hern Witichen sturm,
Sigfrides ald hern Eggen tôt;
Sô wil der ahtode dâ bî niht wan hübschen minnesanc;
dem niunden ist diu wîle bî den allen lanc;
der zehende enweiz wie,
nu sust nu sô, nu dan nu dar, nu hin nu her,
nu dort nu hie.
dâ bî hæte manger gerne der Ymlunge hört,
der wigt min wort
ringer danne ein ort,
des muot ist in schatze verschort.
sus gêt min sanc in manges ôrn,
als der mit blîje in marmel bort.
sus singe ich unde sage iu niht,
des iu bî mir der künic enbôt.

5.
Fundamentum artium
ponit grammatica,
ad methodi principium
dat viam dialectica.
duplici colore decorat sermonem rhetorica.
Numeros distinguere
seit arithmetica.
melos et tonos promere
dulces nos docet musica.
geometer circinat, astra seit ars astrologica.
Theologia viam salutis predicat,
sed naturalis causas rerum indicat.
medetur medicus.
physim rerum mobilium transcendit metaphysicus.
Spiritus malignos arcet nigromantia.
alchimia
docet subtilia
metalla mutans omnia.
leges inflant precordia, iura non cassant vitia.
simonie studia plus placent philosophia.

 
1.
Du Sohn der hochgelobten Jungfrau,
Gott, Herr, Vater, Christus,
meine Schuld gegen dich ist übergroß.
Gewähr in deiner Güte mir noch Frist,
damit ich meine große Missetat dir büßen kann.
Mein Herz war immer blind dir gegenüber
und ist es leider noch.
Das Sündigen machte mir nichts aus.
Herr, denk daran, daß du es bist,
der für uns arme Sünder große Not erlitten hat.
Laß dein angstvolles Sterben nicht an uns verloren sein.
Gib mir ins Herz, Herr, rechten Sinn,
daß ich in deinem Dienst hier lebe so,
daß dort der Teufel sich nicht freut über mich,
wenn wir am jüngsten Tage aufeinander treffen,
wo niemand deinen Bannstrahl
abwenden kann.
Da strafe nicht, Herr, wenn ich versäumte
dein heiliges Gebot, das ich im Herzen immer noch
zu wenig achtete.
Bei deinem Tod, hilf, daß die arme Seele gerettet werde.

2.
Gott gibt seine Gaben, wem er will.
Er hat Euch das Leben gegeben
und schon in jungen Jahren große Gnadengaben.
Darüber sollt Ihr nicht hochmütig werden.
Ehrt die Ritter, liebt die Damen,
grüßt das arme, bedürftige Volk!
Euch ist ein Ziel gesteckt,
blickt nach vorne und blickt um Euch
und spielt darum in ehrenhaftem Spiel!
Bedenkt, wie Eure Vorfahren lebten,
von denen viele die Krone trugen
bis in den Tod!
Wer Euch dient, dem sollt auch Ihr Euch gnädig zeigen.
Der Witwen und der Waisen Not gehe Euch zu Herzen.
Haltet die Deutschen hoch!
Liebt Gott von Herzen,
dann tut er durch Euch, was Ihr erstrebt.
Verdient Euch Akkon, mächtiger König, und Sizilien!
Schwaben ist schon
in Eurer Hand
(da heißt Ihr Herzog)
dazu die Einkünfte vom Egerland
und die Leute aus Nürnberg und vom Sand.
So Gott will, kommt noch auf Euer Haupt
die edle Krone von Rom.

3.
Ein Fuchs, der sich schämt, Mäuse zu fangen,
wird wohl verhungern müssen.
Eine Maus, die Ähren sammelt in ein fremdes Loch,
betreibt ein klägliches Geschäft.
Kranker Arzt, armer Prophet, leidiger Gast
die schätzt man nicht.
Wer einen wilden Marder zähmt im Schoß
und einem Löwen ein Joch auflegt, wenn dem dabei die Hand nicht lahm wird,
so wird er doch wohl >au< sagen.
Zum Ochsen paßt eine Krone nicht,
noch in des Feiglings Hand ein gutes Schwert.
Tanzender Mönch, flirtende Nonne, schwänzelnder Affe,
im Mai ein Frost und im August ein starker Hagel,
das hat mir noch nie gefallen.
wenn ein Reicher lügt
und ein Eichhorn den Bären jagt,
Prunksucht von Armen, Unvernunft von Alten wundern mich.
Was die Welt lobt,
schmilzt wie ein Eis.
Für ein geliebtes Kind ist die Rute gut.
Wer ohne Furcht aufwächst, wird ohne Ehre alt.
In all den Dingen steht es heute schlechter als vordem.

4.
Sing ich den Leuten meine Lieder,
so will der erste hören,
wie Dietrich aus Bern fliehen mußte,
der andre, wo König Rother saß;
der dritte will den Sturm der Reußen,
der vierte aber Eckharts Not,
der fünfte will Kriemhilds Verrat;
dem sechsten gefiele es besser zu hören,
wohin der Wilzen Volk gekommen ist;
der siebte wollte gern ein Stück
aus Heimes oder Wittichs Stürmen,
von Siegfrieds oder Eckes Tod;
der achte aber möchte nichts als höfischen Minnesang;
dem neunten wird die Zeit bei alledem zu lang;
der zehnte weiß nicht was,
mal so mal so, mal dies mal das, mal hin mal her,
mal dort mal hier.
Doch viele hätten gern der Nibelunge Hort,
die schätzen meine Worte
noch weniger als einen Pfennig,
ihr Geist ist mit dem Schatz verscharrt.
So dringt mein Lied in viele Ohren,
wie wenn einer mit Blei in Marmor bohrt.
So singe und sage ich euch doch nicht,
was euch der König durch mich entbieten läßt.

5.
Das Fundament der Wissenschaften
legt die Grammatik,
zum Anfang methodischen Denkens
führt die Dialektik hin.
Mit zweierlei Farben schmückt Rhetorik die Rede.
Die Zahlen zu unterscheiden
versteht die Arithmetik.
Hervorzubringen süße Melodien und Töne
lehrt uns die Musica.
Der Geometer zieht Kreise, die Sterne kennt die Astronomie.
Die Theologie verkündigt den Weg des Heils,
Die Naturwissenschaft nennt die Ursachen der Dinge.
Der Mediziner heilt.
Die Natur der wandelbaren Dinge übersteigt der Metaphysiker.
Die bösen Geister bannt die Nigromantie.
Die Alchimie
lehrt Erstaunliches,
indem sie alle Metalle verändert.
Gesetzeswissen schwellt die Brust, doch tilgen die Rechte die Laster nicht.
Mehr Anklang findet das Studium der Simonie als alle Wissenschaften.

 
Quelle:
© Deutscher Klassiker Verlag/2006/Deutsche Lyrik des späten Mittelalters/Herausgegeben von ©Burghart Wachinger