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III. Trinklieder und Spielerlieder-Carmina potoria
 

II. Frühlings- und Liebeslieder - Carmina amatoria
 
Das Bild gibt eine Miniutur aus der Handschrift der "Carmina burana"
(Cod. lat. 4660 der
©Bayerischen Staatsbibliothek, München) wieder:
Ein Vagant überreicht seiner geliebten Flora Blumen; in der Handschrift
wird das Bild umrahmt von den Versen:

 


 

Suscipe, flos, florem, quia flos designat amorem!
Illo de flore nimio sum captus amore.
Hunc florem, Flore dulcissima, semper adora!

(Nimm, Blume, die Blume hin, sie ist ja ein Zeichen der Liebe.
Durch jene Blume bin ich von mächtiger Liebe ergriffen.
Dieser Blume verleih doch Duft stets, süßteste Flora!)


 
48a (mhd.)
 
Horstu, uriunt, den wahter an der cinne,
wes sin sanch ueriach?
wir můzen uns schaiden nu, lieber man.
also schiet din lip nu jungest hinnen,
do der tach ůf brach
unde uns diu naht so fluhtechlichen tran.
naht git senfte, we tuot tach.
Owe, herce lieb, in mach
din nu uerbergen niht.
uns nimit diu freude gar daz grawe lieht.
stand ůf, riter!

Otto von Botenlauben 1177-1244
 
Hörst du, Gefährte, den Wächter an der Zinne
und was sein Lied verkündet?
Wir müssen nun scheiden, geliebter Mann.
Genauso hast du mich unlängst verlassen,
als der Tag anbrach
und uns die Nacht so geschwind entfloh.
Die Nacht tut wohl, der Tag bringt Schmerzen.
Ach, von Herzen Geliebter, ich kann
dich nun nicht verbergen.
Das Morgengrauen nimmt uns alle Freude.
Steh auf, Ritter!



 
94 (lat.)
 
1.
Congaudentes ludite,
choros simul ducite!
iuvenes sunt lepidi,
senes sunt decrepiti!
Audi, bel'amia,
mille modos Veneris! hahi zevaleria!

2.
Militemus Veneri,
nos qui sumus teneri!
Veneris tentoria
res est amatoria!
Audi, bel'amia,
mille modos Veneris! hahi zevaleria!

3.
Iuvenes amabiles,
igni comparabiles;
senes sunt horribiles,
frigori consimiles!
Audi, bel'amia,
mille modos Veneris! hahi zevaleria!

 
1.
Freut euch mit und tanzt,
führt zusammen die Reigen!
Die Jungen sind allerliebst,
die Greise sind altersschwach!
Höre, schönes Liebchen,
die tausend Lieder der Venus! Heja, ihr Reiter!

2.
Leisten wir der Venus Kriegsdienst,
die wir jung und zärtlich sind!
Das Zeltlager der Venus
ist die Sache der Liebe!
Höre, schönes Liebchen,
die tausend Lieder der Venus! Heja, ihr Reiter!

3.
Die Jungen sind voller Liebe,
dem Feuer vergleichbar;
die Greise sind furchtbar,
dem Frost ganz ähnlich!
Höre, schönes Liebchen,
die tausend Lieder der Venus! Heja, ihr Reiter!

 
96 (lat.)
 
1.
Iuvenes amoriferi,
virgines amplexamini!
ludos incitat
avium con centus.
O vireat,
o floreat,
o gaudeat
in tempore iuventus!

2.
Domicelli, surgite!
domicellas querite!
ludos incitat
avium concentus.
O vireat,
o floreat,
o gaudeat
in tempore iuventus!
 
1.
Ihr jungen Träger der Liebe,
umarmt die Mädchen!
Der Gesang der Vögel
treibt zum zärtlichen Spiel.
O es grüne,
o es blühe,
o es freue
Jugend sich zur rechten Zeit!

2.
Knechte, erhebt euch!
Werbt um die Mägde!
Der Gesang der Vögel
treibt zum zärtlichen Spiel.
O es grüne,
o es blühe,
o es freue
Jugend sich zur rechten Zeit!

 
113a (mhd.)
 
"Vvaz ist fur daz senen gůt,
daz wip nah lieben manne hat?
wie gerne daz min herçe erchande,
wan daz iz so bedwungen stat!"
also reit ein vrowe schone.
"an ein ende ih des wol chome,
wan div hůte;
selten sin vergezzen wirt in minem můte."

Dietmar von Eist 1139-1171
 
"Wozu ist die Sehnsucht gut,
die eine Frau nach dem Geliebten hat?
Wie gern erführe das mein Herz,
das ganz und gar gefangen ist",
sprach eine schöne Dame.
"Ich käme da wohl an ein Ziel,
doch werde ich behütet.
Nie wird er vergessen in meinem Herzen."



 
114 (lat.)
 
1.
Tempus accedit floridum,
hiems discedit temere;
omne, quod fuit aridum,
germen suum vult gignere.
quamdiu modo vixeris,
semper letare, iuvenis, quia nescis, cum deperis!

2.
Prata iam rident omnia,
est dulce flores carpere;
sed nox donat his somnia,
qui semper vellent ludere.
ve, ve, miser quid faciam?
Venus, michi subvenias! tuam iam colo gratiam.

3.
Plangit cor meum misere,
quia caret solacio;
si velles, hoc cognoscere
bene posses, ut sentio.
o tu virgo pulcherrima,
si non audis me miserum, michi mors est asperrima!

4.
Dulcis appares omnibus,
sed es michi dulcissima;
tu pre cunctis virginibus
incedis ut castissima.
o tu mitis considera!
nam pro te gemitus passus sum et suspiria.

 
1.
Die Zeit der Blüte stellt sich ein,
ohne weiteres scheidet der Winter;
alles, was dürr war,
will seine Sprößlinge treiben.
Solange du jetzt lebst,
freue dich, Jüngling, stets, weil du nicht weißt, wann du stirbst!

2.
Schon prangen alle Wiesen,
süß ist das Blumenpflücken;
die Nacht aber schenkt denen Träume,
die immer auf Liebesspiel aus sind.
Weh, weh! Ich Armer, was soll ich tun?
Venus, bitte hilf mir! Jetzt bete ich um deine Gnade.

3.
Unglücklich schlägt mein Herz,
weil es des Trostes entbehrt;
wenn du wolltest, könntest du
das wohl vernehmen, wie ich meine.
O du schönstes Mädchen,
wenn du mich Armen nicht erhörst, sterbe ich den bittersten Tod!

4.
Süß erscheinst du allen,
die Süßeste aber bist du für mich.
Allen Mädchen schreitest du
als Sittsamste voran.
O du Sanfte, bedenke!
Wie viel Stöhnen und Seufzen habe ich um deinetwillen erduldet!

 
114a (mhd.)
 
Der al der werlt ein meister si,
der geb der lieben gůten tach,
von der ih wol getrostet pin.
si hat mir al min ungemach
mit ir gůte gar benomen.
unstæte hat si mir erwert; ih pin sin an ir genade chomen.

 
Der über all die Welt gebietet,
schenk der Geliebten einen guten Tag,
durch die ich wohl getröstet bin.
All meine Unrast hat sie
mit ihrer Güte von mir genommen.
Unstetigkeit hat sie mir verwehrt - so habe ich ihre Gunst gewonnen.

 
115 (lat.)
 
1.
Nobilis, mei miserere, precor!
tua facies ensis est, quo necor,
nam medullitus amat meum te cor:
subveni!
Amor improbus omnia superat.
subveni!

2.
Come sperulas tue eliciunt,
cordi sedulas fiammas adiciunt;
hebet animus, vires deficiunt:
subveni!
Amor improbus omnia superat.
subveni!

3.
Odor roseus spirat a labiis;
speciosior pre cunctis filiis,
melle dulcior, pulchrior liliis,
subveni!
Amor improbus omnia superat.
subveni!

4.
Decor prevalet candori etheris.
ad pretorium presentor Veneris.
ecce pereo, si non subveneris!
subveni!
Amor improbus omnia superat.
subveni!

 
1.
Herrliche, bitte, erbarme dich meiner!
Dein Anblick ist das Schwert, durch das ich sterbe,
denn mein Herz liebt dich inniglich:
Hilf mir!
Der schlimme Amor überwältigt alles.
Hilf mir!

2.
Deine Haare rufen bei mir Freudentränen hervor,
lenken emsige Flammen in mein Herz;
mein Geist ist gelähmt, meine Kräfte schwinden:
Hilf mir!
Der schlimme Amor überwältigt alles.
Hilf mir!

3.
Rosiger Duft strömt von deinen Lippen;
du betörende vor allen Mädchen,
süßer als Honig, schöner als Lilien,
Hilf mir!
Der schlimme Amor überwältigt alles.
Hilf mir!

4.
Deine Schönheit überstrahlt den Himmelsglanz.
Im Palast der Venus werde ich vorstellig.
Sieh nur, ich sterbe, wenn du mir nicht hilfst!
Hilf mir!
Der schlimme Amor überwältigt alles.
Hilf mir!

 
115a (mhd)
 
Edile vrowe min,
gnade mane ih dich!
din wunnechlicher schin
vil gar verderbet mich.
sůze, erchenne dich!
din lip der ist mir ze wunnechlich.
Nach im ist mir not;
sůze vrowe, gnade, alde ih pin tot!
 
Meine edle Herrin,
ich bitte dich um Gnade!
Dein Anblick ist so reizvoll,
er stürzt mich ins Verderben.
Geliebte, sieh es doch ein:
Deine Gestalt ist allzu betörend für mich!
Ihr gilt mein Verlangen.
Gnade, süße Gebieterin, sonst bin ich tot.

 
116 (lat.)
 
1.
Sic mea fata canendo solor,
ut nece proxima facit olor.
blandus heret meo corde dolor,
roseus effugit ore color.
cura crescente,
labore vigente,
vigore labente
miser morior;
tam male pectora multat amor.
a morior,
a morior,
a morior,
dum, quod amem, cogor et non amor!

2.
Felicitate Iovem supero,
si me dignetur, quam desidero,
si sua labra semel novero;
una cum illa si dormiero,
mortem subire,
placenter obire
vitamque finire
statim potero,
tanta si gaudia non rupero.
a potero,
a potero,
a potero,
prima si gaudia concepero!
 
1.
Ich lindere meine Not durch ein Lied,
so wie Schwäne es tun, dem Tode ganz nah.
Liebreizender Schmerz hat sich in meinem Herzen festgesetzt,
die rosige Farbe schwindet aus meinem Antlitz.
Der Kummer wächst,
das Leid regiert,
die Kraft versiegt,
elend sterbe ich.
So schlimm bestraft die Liebe mein Herz.
Ach, ich sterbe,
ach, ich sterbe,
ach, ich sterbe,
weil ich zu lieben gezwungen bin, und nicht wiedergeliebt werde!

2.
An Seligkeit überstrahle ich Jupiter,
wenn sie, nach der ich mich sehne, mich ihrer würdig befindet,
wenn ich ein einziges Mal ihre Lippen verspürt haben werde.
Wenn ich mit ihr zusammen geschlafen haben werde,
bin ich sofort bereit,
meinen Tod zu erleiden,
friedlich zu sterben
und aus dem Leben zu scheiden,
wenn ich mir solche Freuden nicht verbaue.
Ach, ich bin bereit,
ach, ich bin bereit,
ach, ich bin bereit,
wenn ich zuvor diese Freuden empfangen haben werde!

 
122a (lat.)
 
Vite presentis si comparo gaudia ventis,
Cum neutrum duret, nemo reprendere curet!
 
Wenn ich die Freuden des irdischen Lebens dem Wind vergleiche,
weil beides nicht von Dauer ist, soll niemand sie tadeln, voll Sorge.

 
Marbod (Merboldus) von Rennes oder Marbod Redonensis.
Bischof von Rennes * um 1035 in Angers in Frankreich † 11. September 1123 daselbst
 
123a (lat.)
 
Ludit in humanis divina potentia rebus,
Et certam presens vix habet hora fidem.

Ovid, Ex Ponto 4,3,49f.
 
Göttliche Allmacht treibt bei den Menschen ihr Spiel,
und festes Vertrauen verdient der Augenblick kaum.



 
135a (mhd.)
 
Der starche winder hat uns uerlan,
div sumerçit ist schone getan;
walt vnde heide sih ih nu an,
lŏp vnde blůmen, chle wolgetan;
dauon mag uns frŏde nimmer zergan.

Walther von der Vogelweide ca. 1170 - ca. 1230)
 
Der rauhe Winter hat uns verlassen,
herrlich ist die Sommerzeit.
Über Wald und Heide schweift mein Blick,
über Laub und Blumen, hübschen Klee.
Die Freude daran kann uns nie vergehen.



 
136 (lat.)
 
1.
Omnia sol temperat
purus et subtilis,
nova mundo reserat
facies Aprilis;
ad amorem properat
animus herilis,
et iocundis imperat
deus puerilis.

2.
Rerum tanta novitas
in sollemni vere
et veris auctoritas
iubet nos gaudere.
vices prebet solitas;
et in tuo vere
fides est et probitas
tuum retinere.

3.
Ama me fideliter!
fidem meam nota:
de corde totaliter
et ex mente tota
sum presentialiter
absens in remota.
quisquis amat aliter,
volvitur in rota.

 
1.
Die Sonne erwärmt die Erde,
rein und schlicht,
die Anmut des Aprils
tut der Welt Neues auf;
zur Liebe treibt es
den Sinn der edlen Herren,
und über die heiteren Menschen regiert
der knabenhafte Gott.

2.
Eine solche Erneuerung
der Welt im festlichen Lenz
und die Vollmacht des Frühlings
gebieten, daß wir uns freuen.
Er bringt gewohnten Wechsel;
doch in deiner Jugendblüte
liegen Treue und Anstand,
wenn du treu bist deinem Freund.

3.
Liebe mich treu!
Erlebe meine Treue:
Inniglich, von Herzen
und mit ganzer Seele
bin ich bei dir, wenn ich auch
in der Ferne bin.
Jeder, der anders liebt,
wird aufs Folterrad gespannt.

 
136a (mhd.)
 
Solde ih noch den tach geleben,
daç ich wunschen solde
nah der, div mir frŏde geben
nach, ob si noh wolde!
min herçe můz nah ir streben;
mohtih si han holde,
so wolde ih in wunne sweben,
swere ih nimmer dolde.
 
Würde ich doch einmal nur den Tag erleben,
an dem ich sie begehren darf,
die mir Freude schenken
kann – wenn sie es nur wollte!
Mein Herz verzehrt sich nach ihr.
Könnte ich ihre Gunst erwerben,
so würde ich in Wonne schwelgen
und nie mehr Leid erdulden.

 
137 (lat.)
 
1.
Ver redit optatum
cum gaudio,
flore decoratum
purpureo.
aves edunt cantus quam dulciter!
revirescit nemus,
campus est amenus
totaliter.

2.
Iuvenes, ut flores
accipiant
et se per odores
reficiant,
virgines assumant alacriter
et eant in prata
floribus ornata
communiter!
 
1.
Willkommen kehrt der Frühling wieder,
mit Freuden,
mit strahlenden
Blüten geschmückt.
Wie lieblich tragen die Vögel ihre Gesänge vor!
Der Wald ergrünt wieder,
die Felder sind ganz
betörend:

2.
Damit die Jungen Blumen
pflücken
und sich an deren Duft
erquicken,
Mädchen feurig gewinnen
und auf die von Blumen
geschmückten Wiesen gehen:
gemeinsam!

 
138a (mhd)
 
In liehter varwe stat der walt,
der vogele schal nu donet,
div wunne ist worden manichvalt;
des meien tugende chronet
senide liebe; wer were alt,
da sih div çit so schonet?
her meie, iv ist der bris geçalt!
der winder si gehonet!
 
Der Wald färbt sich in hellem Grün,
die Vögel lassen ihr Leid erklingen.
Von vielerlei Art ist die Freude.
Voller Schönheit krönt der Mai
die sehnsuchtsvolle Liebe; wer fühlt sich alt,
wenn sich die Jahreszeit so schmückt?
Der Preis, Herr Mai, gebührt nur Euch!
Der Winter sei geschmäht!

 
Lied 139 (lat.)
 
1.
Tempus transit horridum,
frigus hiemale,
redit, quod est placidum,
tempus estivale.
quod cum Amor exigit
sibi principale,
qui Amorem diligit,
dicat ei vale!

2.
Mutatis temporibus
tellus parit flores,
pro diveris floribus
variat colores.
variis coloribus
prata dant odores,
philomena cantibus
suscitat amores.

3.
Quisquis amat, gaudeat
tempus se videre,
in quo sua debeat
gaudia tenere!
et cum Amor floreat,
qui iubet gaudere,
iam non sit, qui audeat
inter nos lugere!

4.
Unam quidem postulo
tantum michi dari,
cuius quidem osculo
potest mors vitari.
huic amoris vinculo
cupio ligari;
dulce est, hoc iaculo
velle vulnerari!

5.
Si post vulnus risereo,
dulcis est lesura;
si post risum flevero -
talis est natura;
sed cum etas venerit
senectutis dura,
lugeat, quod fecero,
pro pena futura.

6.
Sed quod eam diligo,
mira res videtur;
onus est, quo alligor,
et vix sustinetur.
unum de me iudico,
quod verum habetur:
morior, quam eligo
nisi michi detur.

 
1.
Vorüber geht die schreckliche Zeit,
die winterliche Kälte.
Was uns gefällt, kehrt wieder:
die sommerliche Zeit.
Weil Amor sie mehr als alle
für sich einfordert,
soll jeder, der Amor liebt,
sie willkommen heißen.

2.
Die Witterung hat sich geändert,
die Erde läßt Blumen sprießen,
kraft der verschiedenen Blumen
verändert sie ihre Farben.
Bunt gefärbt
spenden die Wiesen Düfte,
die Nachtigall erregt
mit ihrem Gesang die Liebe.

3.
Jeder, der liebt, soll sich freuen,
daß er die Jahreszeit erlebt,
in der er sich seinen
Freuden widmen kann!
Amor erlebt seine größte Macht,
der uns zur Freude beruft.
Da soll es keiner von uns
mehr wagen, zu klagen!

4.
Nur eine einzige freilich
soll mir bitte zuteil werden.
Ihr Kuß allein kann
meinen Tod verhindern.
Ich begehre, mit ihr
in Amors Fesseln verbunden zu sein;
süß ist der Wunsch
nach einer Wunde durch seinen Pfeil!

5.
Wenn ich bei dieser Wunde lache -
es ist eine süße Verletzung;
wenn ich nach diesem Lachen weine -
so ist die Natur.
Wenn aber dann die harte Zeit
des Greisenalters kommt,
will ich in ihr betrauern, was ich bis dahin tat,
wie künftige Qual es verlangt.

6.
Daß ich diese aber liebe,
erscheint mir wundersam:
Eine Last drückt mich nieder,
die fast unerträglich ist.
Nur ein Urteil fälle ich über mich,
das Anspruch auf Wahrheit hat:
Ich sterbe, wenn meine Auserwählte
mir nicht zuteil wird.

 
140a (mhd)
 
Nu suln wir alle frŏde han,
die zit mit sange wol began!
wir sehen blůmen stan,
div heide ist wunnechclich getan.
tanzen, reien, springerwir
mit frŏde vnde ŏch mit schalle!
daz zimet gůten chinden als iz sol;
nu schinphen mit dem balle!
min vrowe ist ganzer tugende vol;
ih wiez, wiez iv geualle.
 
Nun sollen wir alle fröhlich sein
und die Jahreszeit mit Liedern feiern!
Wir sehen Blumen blühen,
die Heide sieht entzückend aus.
Tanzen und springen wir im Reigen
freudig und mit Gesang.
Das steht guten Mädchen an, so wie es sich gehört;
nun, spielen wir mit dem Ball!
Meine Herrin ist voller reiner Tugenden -
ich weiß, was Euch gefiele.

 
141 (lat.)
 
1a.
Florent omnes arbores,
dulce canunt volucres;
revirescunt frutices,
congaudete, iuvenes!

1b.
Meror abit squalidus,
Amor adit calidus!
superat velocius,
qui non amat ocius.

1c.
Virgo tu pulcherrima,
cum non sis acerrima,
verba das asperrima,
sicut sis deterrima.

1d.
Viribus infirmior
ab Amore ferior,
vulnera experior;
si non sanas, morior.

1e.
"Quid tu captas, iuvenis?
queris, que non invenis.
. . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .


1f.
Mecum queris ludere -
nulli me coniungere,
cum Phenice complice
vitam volo ducere."

2a.
Sed Amor durus est,
ferus est,
fortis est.
qui nos vincit iuvenes,
vincat et iuvenculas
ultra modum rigidas!

2b.
"Video dictis his,
quid tu vis,
quid tu sis,
quod amare bene scis;
et amari valeo,
et iam intus ardeo."

 
1a.
Alle Bäume stehen in Blüte,
lieblich singen die Vögel;
die Büsche werden wieder grün,
freut euch, ihr Jungen alle!

1b.
Die wüste Trauer geht,
der feurige Amor kommt!
Er überwindet schnellstens,
wer nicht sofort liebt.

1c.
Du allerschönstes Mädchen
bist zwar gar nicht so spröde,
doch deine Worte sind äußerst schroff,
so als wärst du die Schlimmste.

1d.
An Kraft unterlegen
werde ich von Amor geschlagen,
erleide Verletzungen;
sterbe, wenn du mich nicht heilst.

1e.
"Wonach jagst du denn, mein Junge?
Die, die du suchst, findest du nicht.
. . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .

1f.
Süße Spiele willst du mit mir spielen -
ich will mich keinem verbinden,
will mein Leben
so wie Phönix führen."

2a.
Aber Amor ist unerbittlich,
ist wild,
ist stark.
Wer uns junge Männer besiegt,
wird auch Mädchen besiegen,
die äußerst unerbittlich sind.

2b.
"Ich erkenne an diesen Worten,
was du willst,
was du bist,
daß du wohl zu lieben vermagst;
ich aber vermag, geliebt zu werden,
und innerlich glühe ich schon."

 
142 (lat.)
 
1.
Tempus adest floridum, surgunt namque flores
vernales; mox in omnibus immutantur mores.
hoc, quod frigus leserat, reparant calores;
cernimus hoc fieri per multos colores.

2.
Stant prata plena floribus, in quibus nos ludamus!
virgines cum clericis simul procedamus,
per amorem Veneris ludum faciamus,
ceteris virginibus ut hoc referamus!

3.
"O dilecta domina, cur sic alienaris?
an nescis, o carissima, quod sic adamaris?
si tu esses Helena, vellem esse Paris!
tamen potest fieri noster amor talis."
 
1.
Die Blütenzeit ist gekommen, die Frühlingsblumen
sprießen ja; bald verändert sich bei allen das Verhalten.
Was der Frost beschädigt hat, setzt die Wärme instand;
wir sehen anhand der bunten Farben, wie es geschieht.

2.
Die Wiesen starren vor Blumen, auf denen wollen wir
schäkern! Laßt uns Jungfrauen und Studenten zusammen
dorthin gehen, laßt uns in der Liebe das Spiel der Venus
treiben, damit wir es den übrigen Jungfrauen berichten!

3.
"O geliebte Herrin, warum tust du so fremd?
Weißt du, o Liebste, etwa nicht, wie sehr du geliebt wirst?
Wärest du Helena, wollte ich Paris sein!
So groß kann unsere Liebe mindestens werden."

 


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142a (mhd)
 
Ih solde eines morgenes gan
eine wise breite;
do sah ih eine maget stan,
div grůzte mih bereite.
si sprah: "liebe, war wend ir?
durfent ir geleite?"
gegen den fůzen neig ih ir,
gnade ih ir des seite.
 
An einem Morgen führte mich
mein Weg an eine große Wiese:
Da sah ich dort ein Mädchen stehen,
das mich freundlich grüßte.
"Wohin geht Ihr, Lieber?", sprach sie.
"Darf ich Euch begleiten?"
Bis zu den Füßen verneigte ich mich
und sagte ihr Dank dafür.

 
143 (lat.)
 
1
Ecce gratum
et optatum
ver reducit gaudia:
purpuratum
floret pratum,
sol serenat omnia.
Iam iam cedant tristia!
estas redit,
nunc recedit
hiemis sevitia.

2
Iam liquescit
et decrescit
grando, nix et cetera;
bruma fugit,
et iam sugit
veris tellus ubera.
illi mens est misera,
qui nec vivit
nec lascivit
sub estatis dextera!

3.
Gloriantur
et letantur
in melle dulcedinis,
qui conantur,
ut utantur
premio Cupidinis.
simus iussu Cypridis
gloriantes
et letantes
pares esse Paridis!


 
1.
Siehe, willkommen
und ersehnt
bringt der Frühling die Freude zurück:
Purpurfarben
blüht die Wiese,
die Sonne erheitert alles.
Ja, jetzt soll Traurigkeit weichen!
Der Sommer kehrt zurück,
zurück weicht nun
die Strenge des Winters.

2.
Jetzt schmilzt
und zergeht
Hagel, Schnee und was sonst noch.
Der Winter flüchtet,
und schon saugt
die Erde an den Brüsten des Frühlings.
Der hat einen trüben Sinn,
der unter des Sommers Verheißung
sein Leben nicht genießt
noch ausgelassen ist!

3.
Stolz
und froh
über die süße Wonne
sind sie, die den Lohn
Cupidos
genießen wollen.
Seien wir, wie Kypris verlangt,
stolz
und froh,
daß wir dem Paris gleichkommen!


 
143a (mhd)
 
"Ze niwen vrŏden stat min můt
hohe,» sprah ein schone wip.
«ein ritter minen willen tuot;
der hat geliebet mir den lip.
ich wil im iemmer holder sin
danne deheinem mage min;
ih erzeige ime wibes triwe schin."

Reinmar von Hagenau *ca. 1200
 
"Nach neuen Freuden steht mir froh
der Sinn", sprach eine schöne Frau.
"Ein Ritter erfüllt mir jeden Wunsch.
Er hat mein Leben erfreulich gemacht.
Für immer liebe ich ihn mehr
als irgendeinen meiner Verwandten.
Ich zeige ihm den Glanz der Frauentreue."



 
145 (lat.)
 
1.
Musa venit carmine;
dulci modulamine
pariter cantemus!
ecce virent omnia: prata, rus et nemus.

2.
Mane garrit laudila,
lupilulat acredula;
iubente natura
philomena queritur antiqua de iactura.

3.
Hirundo iam finsat,
cygnus dulce trinxat
memorando fata,
cuculat et cuculus per nemora vernata.

4.
Pulchre cantant volucres;
terre nitet facies
vario colore
et in partum solvitur redolens odore.

5.
L
ate pandit tilia
frondes, ramos, folia;
thymus est sub ea
viridi cum gramine, in quo fit chorea.


6.
Patet et in gramine
iocundo rivus murmure;
locus est festivus.
ventus cum temperie susurrat tempestivus.

 
1.
Die Muse kommt mit Gesang:
Laßt uns ebenfalls singen,
mit lieblichen Melodien!
Schau, wie alles grünt: Feld, Wald und Wiese!

2.
Am Morgen schwatzt die Lerche,
es trällert die Amsel;
wie die Natur es befiehlt,
beklagt die Nachtigall ihren alten Verlust.

3.
Nun zwitschert die Schwalbe,
der Schwan singt süße Klage,
eingedenk seines Todes,
und der Kuckuck ruft durch die ergrünten Wälder.

4.
Schön trillern die Vögel;
das Antlitz der Erde erstrahlt
in mannigfachen Farben,
und blumig duftend öffnet sie ihren Schoß und gebiert.

5.
Weit lädt die Linde aus:
Laubwerk, Äste, Blätter;
der Thymian wächst unter ihr
mit dem grünen Gras, darauf ein Reigen getanzt wird.

6.
Im Gras auch erstreckt sich
ein Fluß mit ergötzlichem Murmeln;
ein heiterer Ort ist das.
Ein Frühlingswind wispert von milder Luft.

 
146 (lat.)
 
1.
Tellus flore vario vestitur
et veris presentia sentitur,
philomena dulciter modulans auditur;
sic hiemis sevitia finitur.

2.
Rubent gene, coma disgregata
fronte cedit parum inclinata;
tota ridet facies; felix et beata,
que tantis est virtutibus ornata!

3.
Gracilis sub cingulo de more
ista vincit balsamum odore;
felix, qui cum virgine fruitur sopore!
hic deis adequabitur honore.

4.
Distant supercilia decenti
et equali spatio ridenti.
os invitat osculum simile poscenti;
subvenias, mi domina, cadenti!

5.
Vulneratus nequeo sanari,
nulla vite poterit spes dari,
nisi me pre ceteris velis consolari,
que cuncta vincis forma singolari!

 
1.
Die Erde schmückt sich mit bunten Blumen,
und man spürt des Frühlings Gegenwart.
Die Nachtigall läßt ihren Gesang erklingen;
so endet die Strenge des Winters.

2.
Ihre Wangen sind rot, das offene Haar
gibt ihre Stirn frei, sanft geneigt;
das ganze Antlitz strahlt. Glücklich und selig,
die solche Vorzüge schmücken!

3.
Ihr Gürtel umschließt eine schlanke Taille, wie es sein sollte,
ihr Duft übertrifft den Wohlgeruch des Balsams;
glücklich, wer den Schlaf mit dieser Jungfrau genießen darf!
Es kommt an Ehre den Göttern gleich.

4.
Ihre Augenbrauen liegen, in anmutig
ebenmäßigem Abstand, ein fröhlicher Blick.
Ihr Mund lädt zum Küssen, fordert das geradezu ein;
kommt mir, Herrin, zu Hilfe, ich sinke dahin!

5.
Ich bin verletzt und kann nicht geheilt werden,
Hoffnung auf Leben wird niemand mir geben,
wenn du mich nicht vor allen anderen trösten möchtest,
die du alles mit deiner einzigartigen Schönheit übertriffst.

 
146a (mhd)
 
Nahtegel, sing einen don mit sinne
miner hohgemůten chuniginne!
chunde ir, daz min steter můt vnde min herçe brinne
nah irm sůzen libe vnde nah ir minne!
 
Nachtigall, sing mit Bedacht ein Lied
für meine edle Königin!
Sag ihr, daß mein beständiger Sinn und mein Herz sich brennend
sehnen nach ihrer süßen Gestalt und ihrer Liebe!

 
147a (mhd)
 
Sage, daz ih dirs iemmer lone:
hast du den uil lieben man gesehen?
ist iz war, lebet er so schone,
als si sagent vnde ih dih hore iehen?
"vrowe, ih sah in: er ist vro;
sin herçe stat, ob ir gebietet, iemmer ho."

Reinmar von Hagenau *ca. 1200
 
Sprich – ich werd es dir immer danken -,
hast du den Mann, den geliebten, gesehen?
Ist es wahr, ist sein Leben so schön,
wie es heißt und ich dich sagen höre?
"Herrin, ich sah ihn: Er ist froh;
sein Herz ist, wenn Ihr es befehlt, immer freudig gestimmt."



 
Lied 150a (mhd)
 
Ich pin cheiser ane chrone
vnde ane lant: daz meine ih an dem můt;
ern gestůnt mir nie so schone.
wol ir liebe, div mir sanfte tůt!
daz machet mir ein vrowe gůt.
ih wil ir dienen iemmer mer;
ih engesah nie wip so wol gemůt.

Heinrich von Morungen um 1200
 
Ich bin Kaiser ohne Krone
und ohne Land: So fühlt es mein Herz.
Noch nie war ich so froh gestimmt.
Wohl der Liebe, die mich sanft umfängt!
All das bewirkt eine edle Dame,
der ich für immer dienen will.
Nie sah ich eine Frau von so guter Gesinnung.


 


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151a (mhd)
 
So wol dir, meie, wie du scheidest
allez ane haz!
wie wol du die bovme cleidest
vnde die heide baz!
(div hat varue me.)
"du bist churçer, ih pin langer!"
also stritent si uf dein anger,
blůmen vnde chle.

Walther von der Vogelweide ca. 1170 - ca. 1230
 
Wohl dir, Mai, wie du nun friedlich
alles besonders gestaltest!
Wie schön du die Bäume kleidest
und die Heide noch besser!
Sie hat mehr Farbe.
"Du bist kürzer, ich bin länger!"
So streiten auf der Wiese
die Blumen und der Klee.


 
166a (mhd)
 
Solde auer ich mit sorgen iemmer leben,
swenne ander lute weren fro?
gůten trost wil ih mir selbeme geben
vnde min gemůte tragen ho,
so von rehte ein selich man.
si sagent mir alle,
truren sta mir iemerlichen an.

Reinmar von Hagenau *ca. 1200
 
Soll ich für immer Kummer empfinden,
wenn andere Leute fröhlich sind?
Guten Trost will ich mir selber geben
und in froher Stimmung sein
wie ein wirklich glücklicher Mann.
Sie sagen mir alle,
zu trauern stehe mir jämmerlich an.


 
168a (mhd)
 
Nu grůnet auer div heide,
mit grůneme lŏbe stat der walt;
der winder chalt
dwanch si sere beide.
div zit hat sich uerwandelot.
ein senediv not
mant mich an der gůten,
von der ih ungerne scheide.

Neidhart von Reuenthal 1180 - 1240
 
Nun begrünt sich wieder die Heide,
der Wald schmückt sich mit frischem Laub.
Der kalte Winter
bedrängte sie beide gewaltig.
Die Jahreszeit hat sich gewandelt.
Ein sehnendes Verlangen
erinnert mich an die Edle,
von der ich nur ungern scheide.


 
169a (mhd)
 
Roter munt, wie du dich swachest!
la din lachen sin!
scheme dich, swenne du so lachest
nach deme schaden din!
dest niht wolgetan.
owi so verlorner stunde,
sol von minnechlichen munde
solich unminne ergan!

Walther von der Vogelweide ca. 1170 - ca. 1230
 
Roter Mund, welch üble Gesinnung!
Laß dein Lächeln sein!
Schäme dich, wenn du so lachst,
um mir zu schaden!
Daran tust du nicht recht.
Ach, es ist verlorene Zeit,
wenn von einem reizenden Mund
solche Lieblosigkeit ausgeht!


 
174 (lat.)
 
1
Veni, veni, venias,
ne me mori facias!
hyria hyrie
nazaza trillirivos!

2.
Pulchra tibi facies,
oculorum acies,
capiliorum series -
o quam clara species!

3.
Rosa rubicundior,
lilio candidior,
omnibus formosior,
semper in te glorior!
 
1.
Komm, komm, komme doch,
laß mich doch nicht sterben!
Hyria, hyrie,
natzatza trillirivos!

2.
Du hast ein schönes Gesicht!
Die strahlenden Augen,
die geflochtenen Haare -
o welch herrlicher Anblick!

3.
Roter als die Rose,
weißer als die Lilie,
hübscher als alles:
Du bist mein steter Stolz!

 
174a (mhd)
 
1
Chume, chume, geselle min,
ih enbite harte din!
ih enbite harte din,
chum, chum, geselle min!

2.
Sůzer roservarwer munt,
chum vnde mache mich gesunt!
chum vnde mache mich gesunt,
sůzer roservarwer munt!
 
1.
Komm, komm, mein Gefährte,
ich warte so sehr auf dich!
Ich warte so sehr auf dich,
komm, komm, mein Gefährte!

2.
Süßer rosenfarbener Mund,
komm und mache mich gesund!
Komm und mache mich gesund,
süßer rosenfarbener Mund!

 
176 (lat.)
 
Non est in medico semper, relevetur ut eger;
Interdum docta plus valet arte manus.

Ovid, Ex Ponto, 1, 3, 17/18
 
Es liegt nicht immer am Arzt, daß sich ein Kranker erholt;
eine geübte Hand vermag manchmal mehr als seine Kunst.



 
180 (lat.)
 
1.
O mi dilectissima!
vultu serenissima
et mente legis sedula,
ut mea refert littera?
Mandaliet! mandaliet!
min geselle chŏmet niet!


2.
"Que est hec puellula",
dixi, "tam precandida,
in cuius nitet facie
candor cum rubedine?"
Mandaliet! mandaliet!
min geselle chŏmet niet!


3.
Vultus tuus indicat,
quanta sit nobilitas,
que in tuo pectore
lac miscet cum sanguine.
Mandaliet! mandaliet!
min geselle
chovmet niet!

4.
"Que est puellula
dulcis et suavissima?
eius amore caleo,
quod vivere vix valeo."
Mandaliet! mandaliet!
min geselle chŏmet n
iet!

5.
Circa mea pectora
multa sunt suspiria
de tua pulchritudine,
que me ledunt misere.
Mandaliet! mandaliet!
min geselle chŏmet niet!


6.
Tui lucent oculi
sicut solis radii,
sicut splendor fulguris,
qui lucem donat tenebris.
Mandaliet! mandaliet!
min geselle chŏmet niet!


7.
"Vellet Deus, vellent di,
quod mente proposui:
ut eius virginea
reserassem vincula!"
Mandaliet! mandaliet!
min geselle chŏmet niet!

 
1.
O Meine Allerliebste!
Liest du mit überglücklicher Miene
und gespanntem Sinn,
was mein Brief dir überbringt?
Mandaliet! ma
ndaliet!
Mein Geliebter kommt nicht!

2.
"Wer ist dieses blendend
schöne Mädchen", fragte ich,
"in deren Antlitz
Glanz und Röte prangen?
Mandaliet! mandaliet!
Mein Geliebter kommt nicht!

3.
Deine Miene kündet
von der Größe des Adels,
der in deiner Brust
Milch und Blut vermischt.
Mandaliet! mandaliet!
Mein Geliebter kommt nicht!

4.
"Wer ist dieses kleine, süße,
allerliebste Mädchen?
In Liebe zu ihr bin ich entbrannt,
daß ich kaum leben kann."
Mandaliet! mandaliet!
Mein Geliebter kommt nicht!

5.
Rings in meinem Herzen
schwirren zahlreiche Seufzer
ob deiner Schönheit,
die mich elendiglich martern.
Mandaliet! mandaliet!
Mein Geliebter kommt nicht!

6.
Deine Augen leuchten
wie das Strahlen der Sonne,
so wie das Gleißen des Blitzes,
der dem Dunkel Licht verleiht.
Mandaliet! mandaliet!
Mein Geliebter kommt nicht!

7.
"Möge Gott, die Götter gewähren,
was ich mir vorgenommen habe:
ihre jungfräulichen
Fesseln zu lösen!
Mandaliet! mandaliet!
Mein Geliebter kommt nicht!

 
185 (mhd./latein)
 
1.
Ich was ein chint so wolgetan,
virgo dum florebam,
do brist mich div werlt al,
omnibus placebam.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

2.
Ia wolde ih an die wisen gan,
flores adunare,
do wolde mich ein ungetan
ibi deflorare.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

3.
Er nam mich bi der wizen hant
sed non indecenter,
er wist mich div vise lanch
valde fraudulenter.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

4.
Er graif mir an daz wize gewant
valde indeccenter,
er furte mih bi der hant
multum violenter.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

5.
Er sprach:"vrowe, gewir baz!
nemus est remotum."
dirre wech, der habe haz!
planxi et hoc totum.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

6.
"Iz stat ein linde wolgetan
non procul a via,
da hab ich mine herphe lan,
tympanum cum lyra"
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

7.
Do er zu der linden chom,
dixit "sedeamus,"
-div minne twanch sêre den man-
"ludum faciamus!"
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

8.
Er graif mir an den wizen lip,
non absgue timore,
er sprah:"ich mache dich ein wip,
dulcis es cum ore!"
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

9.
Er warf mir  ûf daz hemdelin,
corpore detecta,
er rante mir in daz purgelin
cuspide erecta.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

10.
Er nam den chocher unde den  bogen,
bene venabatur!
der selbe hete mich betrogen.
"ludus compleatur!"
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!

 
1.
Ich war ein hübsches, junges Mädchen
in meiner Jugendblüte,
da pries mich die ganze Welt,
allen habe ich gefallen.
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

2.
Ja, ich wollte zu der Wiese,
einen Strauß Blumen pflücken,
da wollte mir ein schlechter Kerl
dort meine Blume brechen.
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

3.
Er nahm mich an der weißen Hand,
jedoch nicht ungebührlich,
und führte mich die Wiese entlang,
äußerst heimtückisch.
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

4.
Er griff mir an das weiße Kleid,
äußerst ungebührlich,
und zog mich fort an meiner Hand
ausgesprochen heftig.
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

5.
"Mädchen," sprach er, "gehn wir weiter!
Bis zum Hain ist es weit."
Dieser Weg, er sei verflucht!
Ich weinte die ganze Zeit.
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

6.
"Da gibt es eine schöne Linde
nicht weitab vom Wege,
dort ließ ich meine Harfe,
Tamburin und Laute."
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

7.
Als er zu der Linde kam,
sagte er: "Setzen wir uns,"
- arg bedrängte ihn die Liebeslust, -
"treiben wir ein Spielchen."
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

8.
Er berührte meinen weißen Leib
mit einer gewissen Scheu.
Er sprach: "Ich mache dich zur Frau,
dein Gesicht betört mich."
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

9.
Er zerrte mir das Hemdchen auf,
und als mein Leib entblößt war,
drang er mir in meinen Schoß
mit erhobener Lanze.
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

10.
Er nahm den Köcher und den Bogen.
und jagte mit Erfolg.
Dieser Mann hat mich betrogen:
"Das Spiel ist jetzt zu Ende."
Hei und ohe!
Verflucht sein sollen die Linden,
die am Wegesrand stehen.

 

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