Fabelverzeichnis


 


 
Gesta Romanorum
deutsch: Die Taten der Römer

sind eine spätmittelalterliche Exempelsammlung, die seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bis in den Barock in wechselnder Gestalt weite Verbreitung fand.
Die Stoffe der Geschichten, die stets mit einer moralischen Auslegung enden, stammen aus antiken Quellen: z. B. aus der Bibel, aus Legenden, aus der Naturkunde-
Isidor von Sevilla um 600-636,- der mittelalterlichen Geschichtsschreibung- Paulus Diaconus um 720-800.
Ferner kann man davon ausgehen, dass weiteres Material aus parallelen Predigt- und Exempelsammlungen übernommen wurde.
Die Gesta Romanorum waren in vielen Handschriften, später Drucken verbreitet und lieferten die
Vorlage für bedeutende Werke der europäischen Literaturen - so geht der Ursprung von Lessings "Ringparabel" darauf zurück.-


Die Sprache der Gesta Romanorum ist nicht das "tote" Latein des am ciceronianischen Stilideal geschulten Gelehrten, sondern das lebende Latein des guten Erzählers.
Der Satzbau der Gesta-Texte ist unkompliziert und leicht überschaubar. Gefeilte Perioden und raffinierte Stilmittel kommen nicht vor.

Dieser Übersetzung liegt der lateinische Text von Hermann Oesterley (1872) zugrunde.
Oesterleys Schreibweise der lateinischen Texte wurde weitgehend unverändert übernommen. Auf eine "Normalisierung" der Schreibweise im Sinne der klassischen Latinität und des heute im Schulunterricht vermittelten Lateins wurde schon aus dem Grunde verzichtet, weil das mittelalterliche Sprachkolorit, der Color Latinus Aetatis Mediae, soweit es im Schriftbild zum Ausdruck kommt, erhalten bleiben sollte.

Eine kleine Auswahl an Texten habe ich mit der entsprechenden deutschen Übersetzung in einem Büchlein von ©Reclam aus dem Jahre 1991 gefunden. Diese Texte wurden von ©Rainer Nickel übersetzt und beinhaltet 281 Geschichten.
Eine kleine Auswahl habe ich zusammengestellt. Ein "Leckerli" für Lateinfreunde, hoffentlich!

 
Geschichten

VI.
De sequenda ratione

Erat quidam imperator potens. qui quandam puellam regis filiam pulchram valde dilexit.
Facta desponsacione ambo adinvicem juramentum fecerunt, quod, si quis eorum prius moreretur,
alter pre nimio amore se ipsum occideret.

Accidit semel, quod imperator iste ad partes longinquas se transtulit et diu moram ibidem traxit. Volens
probare uxorem, ad eam nuncium destinavit, ut ei de morte sua diceret. Audiens hoc uxor propter
juramentum, quod ante fecerat viro suo, de alto monte se precipitavit, ut moreretur. Verumtamen
mortua non est, sed infra breve tempus sanitati est restituta. Deinde iterato se ipsam volebat praecipitare,
ut moreretur.

Pater ejus hoc audiens ei precepit, ut precepto et juramento viri non obediret. Illa vero nolebat consentire.
Ait pater: "Ex quo non vis michi consentire et obedire, celeriter extra societatem meam exeas." At illa:
"Nolo, et hoc per talem rationem probo. Cum autem quis iuramento est obligatus, tenetur adimplere. Ego
juravi viro meo, quod pro ejus amore meipsam occiderem. Ideo non deliqui, si juramentum implere volo;
ergo extra societatem tuam non debeo expelli. Item nullus debet puniri pro eo, quod est commendabile.
Sed cum vir et uxor sint unum in carne secundum deum, commendabile est, quod uxor pro amore viri
sui moriatur. Unde in India aliquando erat lex, quod uxor post mortem viri sui pre dolore et amore
seipsam comburere deberet vel viva cum eo in sepulcrum poni. Et ideo, ut michi videtur, non deliqui,
quando meipsam interficio propter amorem viri mei."

Ait pater: "Quando prius dixisti, quod obligata juramento fuisti etc., tale obligamentum non valet,
quia pretendit ad malum finem, scilicet ad mortem. Juramentum semper debet esse racionabile et ideo
juramentum tuum nullum est. Ad aliam racionem, quando dixisti, quod istud est commendabile, quod uxor
moriatur pro viro, non valet, quia, licet sint unum in corpore per carnalem affectionem, tamen in anima
duo sunt, que abinvicem realiter differunt. Et ideo non valet, quod allegasti."

Puella hec audiens non poterat ulterius arguere, sed dictis patris adhesit, nec ulterius seipsam precipitare
volebat nec amplius viro suo copulari.


6.
Der Liebesschwur

Es war einmal ein mächtiger Herrscher, der liebte eine schöne Königstochter von ganzem Herzen. Als sie
die Hochzeit gefeiert hatten, leisteten sie sich gegenseitig einen Schwur: Wenn einer von beiden früher
als der andere sterbe, dann soll sich dieser aus grenzenloser Liebe selbst töten.

Es geschah einmal, dass sich dieser Herrscher in weit entfernte Länder begab und dort lange Zeit blieb.
Weil er seine Frau auf die Probe stellen wollte, ließ er ihr die Nachricht überbringen, er sei tot. Als die
Frau dies hörte, stürzte sie sich ihrem Schwur getreu, den sie damals ihrem Mann geleistet hatte,
von einem steilen Felsen, um zu sterben. Doch sie kam dadurch nicht ums Leben, sondern wurde innerhalb
kurzer Zeit wieder gesund. Darauf wollte sie sich ein zweites Mal hinabstürzen, um zu sterben.

Als ihr Vater davon erfuhr, befahl er ihr, der Weisung und dem Eid, den sie ihrem Mann geleistet hatte,
nicht zu gehorchen. Sie aber war nicht bereit, dem Vater nachzugeben. Da sprach der Vater folgende
Worte: "Da du mir nicht nachgeben und gehorchen willst, geh mir unverzüglich aus den Augen." Darauf
erwiderte die Tochter: "Nein, und ich rechtfertige mein Verhalten mit folgender Überlegung: Wenn jemand
durch einen Eid zu etwas verpflichtet ist, muss er dies erfüllen. Ich habe meinem Mann geschworen,
mich aus Liebe zu ihm selbst töten. Deshalb habe ich nichts falsch gemacht, wenn ich die Absicht habe,
meinem Eid entsprechend zu handeln. Also darf ich auch nicht von dir verstoßen werden.
Ebenso darf niemand für etwas bestraft werden, das als richtig gilt. Aber da Mann und Frau nach Gottes Willen eine
fleischliche Einheit bilden, ist es richtig, dass die Frau aus Liebe zu ihrem Mann den Tod sucht. Darum
gab es einst in Indien ein Gesetz, dass eine Ehefrau nach dem Tod ihres Mannes sich selbst aus Schmerz
und Liebe verbrennen musste oder lebendig mit ihm begraben wurde. Und deshalb habe ich, wie mir
scheint, nichts Falsches getan, wenn ich mich aus Liebe zu meinem Mann selbst töte."

Darauf erwiderte der Vater: "Auch wenn du vorher gesagt hast, dass du dich durch einen Schwur
verpflichtet hast usw., hat ein solcher Schwur keine Bedeutung, weil er auf einen bösen Zweck, d. h. auf
den Tod, zielt. Ein Eid muss immer vernünftig sein, und darum ist ein Eid kein richtiger Eid. Was das zweite
Argument angeht, das du vorgebracht hast, dass es richtig sei, wenn eine Ehefrau für ihren Mann sterbe,
so hat auch dies keine Bedeutung. Denn mögen auch Mann und Frau durch die fleischliche Begierde eine
leibliche Einheit sein, seelisch sind sie zwei Wesen für sich, die sich deutlich voneinander unterscheiden.
Und darum ist das bedeutungslos, was du vorgebracht hast."

Als die junge Frau diese Worte hörte, konnte sie nicht mehr widersprechen, sondern ließ sich von den
Argumenten ihres Vaters überzeugen. Sie hatte auch nicht mehr die Absicht, sich in die Tiefe zu stürzen,
wollte aber auch die eheliche Gemeinschaft mit ihrem Mann nicht mehr fortsetzen.

 

VII.
De invidia malorum adversum bonos

Dioclecianus regnavit, in cujus imperio erat quidam miles generosus, qui duos filios habebat, quos multum
dilexit. Junior filius contra voluntatem patris meretricem in uxorem duxit. Cum pater hoc audisset,
contristatus est valde, et illum a societate sua expulit. Iste sic expulsus in magna miseria est positus.
Tamen de meretrice uxore sua filium formosum genuit et ad magnam egestatem pervenit. Misit nuncium
ad patrem suum, ut misericordiam de eo haberet. Pater vero cum audisset de ejus miseria, commota
sunt omnia viscera ejus et misertus ei cum eo reconciliatus est. Ipso reconciliato patri suo filium, quem de
uxore sua meretrice genuerat, recommendavit; pater vero ipsum quasi in filium proprium enutrivit.

Hec audiens frater senior indignatus dixit patri suo: "Tu es demens, et hoc probo tibi tali racione. Ille est
demens, qui filium in heredem accipit et nutrit, qui ei injuriam magnam fecit. Sed frater meus, qui illum
puerum genuit, fecit tibi magnam injuriam, quando meretricem contra tuum preceptum desponsavit. Ergo
videtur, quod tu es demens. quod filium ejus nutris et ei pacem dedisti."

Pater ad hoc respondit: "Fili, frater tuus est michi reconciliatus per magnam contritionem, quam habuit,
et propter preces aliorum. Ideo oportet me filium suum diligere plus quam te. Hac ratione: tu sepius contra
me fecisti, et nunquam reconciliatus es michi, quia culpam tuam recognoscere noluisti. Jam tu es ingratus
fratri tuo, ex quo velles ipsum a societate mea expellere; immo pocius deberes gaudere, quod michi est
reconciliatus. Et quia ingratus es, hereditatem meam non obtinebis, et illam, quam de jure habere debuisses,
frater tuus occupabit." Et sic factum est.


7.
Der verlorene Sohn

Zur Zeit des Kaisers Diokletian lebte in dessen Reich ein edler Ritter, der hatte zwei Söhne, die er sehr liebte.
Der jüngere Sohn heiratete gegen den Willen seines Vaters eine Hure. Als der Vater davon erfuhr, wurde er
sehr traurig und verstieß seinen Sohn. Der Verstoßene geriet in großes Unglück. Doch er bekam von seiner
Frau, der Hure, einen schönen Sohn und geriet noch tiefer in Not. Da schickte er eine Botschaft an seinen
Vater und bat ihn, er möge Erbarmen mit ihm haben. Der Vater war vom Unglück seines Sohnes zutiefst
erschüttert, und von Mitleid überwältigt versöhnte er sich mit ihm. Nach der Versöhnung vertraute er seinem
Vater den kleinen Sohn an, den er von seiner Frau, der Hure, bekommen hatte. Der Vater zog ihn auf wie
seinen eigenen Sohn.

Als der ältere Bruder dies bemerkte, ärgerte er sich sehr und wandte sich mit folgenden Worten an den
Vater: "Du bist wahnsinnig, und dies begründe ich dir folgendermaßen: Wahnsinnig ist, wer einen Sohn als
Erben anerkannt und ernährt, der ihm großes Unrecht getan hat. Aber mein Bruder, der jenen Knaben
zeugte, tat dir großes Unrecht an, da er die Hure trotz deines Verbotes heiratete. Daraus ergibt sich,
dass du wahnsinnig bist, zumal du auch noch dessen Sohn ernährst und ihm eine Familie gegeben hast."

Darauf erwiderte der Vater: "Ich habe mich mit deinem Bruder ausgesöhnt, weil er großes Leid erdulden
musste und weil andere darum baten. Deshalb muss ich seinen Sohn mehr lieben als dich, und zwar aus
folgendem Grund: Du hast dich oft gegen mich gestellt, und nie hast du dich mit mir versöhnt, weil du
deine Schuld nicht demütig eingestehen wolltest. Jetzt bist du deinem Bruder böse, und deshalb wolltest
du ihn auch aus meiner Gesellschaft entfernen. Du solltest dich vielmehr darüber freuen, dass er sich mit
mit mir versöhnt hat. Und weil du böse bist, wirst du nicht mehr mein Erbe sein, und ein Teil, den du nach
dem Gesetz hättest haben müssen, wird dein Bruder erhalten." Und so geschah es.

 

XI.
De veneno peccati quo quotidie nutrimur

Alexander regnavit potens valde, qui magistrum Aristotelem in suum doctorem habebat, qui eum in omni
scientia instruebat. Hoc audiens regina aquilonis filiam suam a tempore suae nativitatis veneno nutrivit,
et
cum pervenisset ad legitimam aetatem, erat tam pulchra et oculis hominum graciosa, quod multi per
adspectum ejus infatuati sunt.

Regina eam ad Alexandrum misit, ut ejus concubina fieret. Visa puella statim captus est in amorem ejus,
et
dormire cum ea volebat. Hoc percipiens Aristoteles dixit ei: "Nolite talia attemptare. Quae si feceritis, in
continenti moriemini, eo quod ipsa sit toto tempore vitae suae veneno nutrita. Quod autem verum sit,
probabo statim. Hic est quidam malefactor, qui per legem debet mori. Cum ea dormiat, et tunc, si verum est,
videbitis. "Et sic factum est. Malefactor osculatus est eam coram omnibus. Statim cecidit et mortuus est.
Alexander hoc percipiens magistrum miro modo laudavit, qui eum a morte liberavit. Puellam matri remisit.

Moralisacio:
Carissimi, iste Alexander potest dici quilibet christianus bonus fortis et potens per virtutes, quas in baptismo
recepit, qui potens et fortis est, quamdiu manet in caritate et puritate vite contra diabolum, mundum et
carnem.
Regina aquilonis est habundancia rerum, que hominem que-rit occidere, spiritualiter aliquando, sepius
corporaliter. Puella intoxicata est luxuria et gula, que nutriuntur ex cibariis delicatis, que sunt venena anime.
Aristoteles est tua consciencia sive racio, que semper murmurat et contradicit illis, que sunt anime nociva,
et
illum impedit, ne cum talibus immisceat se.
Malefactor est vir perversus, deo inobediens, qui magis sequitur delicias carnis, quam divina precepta. Talis
tota die in peccatis dormit osculando i. e. tangendo gulam et luxuriam, per quos tactus spiritualiter occiditur.

Unde sapiens: "Qui tangit picem, coinquinabitur ab ea. "Studeamus ergo sobrie vivere, et sic poterimus ad
eternam pervenire vitam.


11.
Die vergiftete Schöne

Der mächtige König Alexander hatte Aristoteles, den Philosophen, zum Lehrer, der ihn in allen
Wisse
nschaften unterwies. Dies vernahm die Königin des Nordens, die ihre Tochter von Geburt an mit Gift
ernährte. Als sie volljährig wurde, war sie so schön und bot den Augen der Menschen einen so
lieblichen Anblick, dass viele von ihrer Schönheit betört wurden.

Die Königin schickte sie zu Alexander, damit sie seine Geliebte werde. Als Alexander die junge Frau sah,
verliebte er sich sogleich in sie und wollte sie besitzen. Das bemerkte Aristoteles und sprach zu ihm: "Lass
ab davon. Wenn Ihr dies tut, dann werdet Ihr sofort sterben. Denn sie wurde Zeit ihres Lebens mit Gift
ernährt. Dass dies wahr ist, werde ich gleich beweisen: Hier ist ein Übeltäter, der zum Tode verurteilt ist.
Er soll mit ihr schlafen, und dann werdet Ihr sehen, ob ich die Wahrheit sage."
Und so geschah es. Der Übeltäter küsste sie in Gegenwart aller Anwesenden. Sofort brach er tot zusammen.
Als Alexander dies sah, lobte er den Philosophen überschwenglich; denn dieser hatte ihn vor den sicheren
Tod bewahrt. Das Mädchen schickte Alexander zu seiner Mutter zurück.

Moralisation:
Liebste Freunde, dieser Alexander kann einem guten Christen gleichgesetzt werden, der stark und kraftvoll ist
aufgrund seiner Tugenden, die im durch die Taufe zuteil wurden, der stark und kraftvoll ist,
solange er in der Liebe und Reinheit des Lebens weilt und sich gegen den Teufel, die Welt und das Fleisch zur Wehr setzt.
Die Königin des Nordens ist der weltliche Überfluss, der den Menschen umzubringen sucht, manchmal
seelisch, häufiger körperlich.

 

XXXIII.
De jactantia

Refert Valerius, quod homo quidam nomine Peratinus flens dixit filio suo et omnibus vicinis suis: "Heu, heu
michi! Habeo in horto meo arborem infelicem, qua uxor mea prima se suspendit, postmodum secunda, modo
tercia, et ideo dolor est michi miserabilis." Ait unus, cui nomen Arrius: "Miror te in tantis successibus lacrimas
emisisse. Da michi, rogo te, tres surculos illius arboris, quia intendo inter vicinos dividere, ut quilibet arborem
habeat ad uxorem suam suspendendam." Et sic factum est.

Moralisacio:
Carissimi, hec arbor est sancta crux, in qua pependit Christus. Hec arbor debet poni in horto hominis, dum
anima habet jugem memoriam de passione Christi. In ista arbore tres uxores hominis suspenduntur, scilicet
superbia vite, concupiscencia carnis et concupiscencia oculorum. Homo enim datus mundo tres uxores ducit:
una est filia carnis, que vocatur voluptas, alia filia mundi, que vocatur cupiditas, tercia filia diaboli, que
vocatur superbia.
Sed cum peccator gracia dei adheret penitencie, iste uxores voluntates suas non habentes se suspendunt.
Cupiditas se suspendit fune eleemosyne, superbia fune humilitatis, voluptas se suspendit fune jejunii et
castitatis. Iste, qui quesivit surculos, est bonus Christianus, qui toto conamine hoc debet appetere et querere,
non tantum pro se, sed pro aliis vicinis. Ille, qui flevit, est miser homo, qui magis diligit carnem et ea, que
carnis sunt, quam ea, que sunt spiritus sancti. Tamen sepius talis ad rectam viam poterit duci, et sic vitam
eternam obtinebit.


33.
Der Hängebaum

Valerius berichtet, ein Mann namens Peratinus habe seinem Sohn und allen seinen Nachbarn sein Leid
geklagt: "O weh, ich habe in meinem Garten einen unglückseligen Baum, an dem sich meine erste Frau
aufgehängt hat, darauf meine zweite und jetzt meine dritte, und darum leide ich erbärmlich." Da sagte ein
gewisser Arrius zu ihm: "Ich wundere mich, dass du bei solchen Erfolgen Tränen vergossen hast. Gib mir
bitte drei Triebe jenes Baumes, weil ich die Absicht habe, diese an meine Nachbarn zu verteilen, damit
jeder einzelne einen Baum hat, an dem sich seine Frau aufhängen kann." Und so geschah es.

Moralisation:
Liebste Freunde, dieser Baum ist das Heilige Kreuz, an welchem Christus hing. Dieser Baum muss in den Garten
des Menschen gepflanzt werden, solange die Seele eine fortdauernde Erinnerung an das Leiden Christi hat.
An diesem Baum werden die drei Frauen des Menschen gehängt, d.h. die Überheblichkeit des Lebens,
die Begierde des Fleisches und die Lust der Augen. Denn der Mensch der sich der Welt hingibt, heiratet drei Frauen:
die eine ist eine Tochter des Fleisches, die man "Lust" nennt, die zweite ist eine Tochter der Welt mit dem Namen
"Begierde," die dritte ist eine Tochter des Teufels, die "Überheblichkeit" heißt.
Doch wenn der Sünder auf Grund der Gnade Gottes Reue zeigt, hängen sich diese Frauen auf, weil sie ihren
Willen nicht durchsetzen können. Die Begierde erhängt sich am Strick der Barmherzigkeit, die Überheblichkeit
am Strick der Demut, die Lust erhängt sich am Strick der Enthaltsamkeit und der Keuschheit. Der Mann,
der um die Triebe bat, ist der gute Christ, der mit ganzer Kraft danach streben und verlangen muss, nicht so
sehr für sich selbst wie für seine Mitmenschen. Der Weinende ist ein unseliger Mensch, der das Fleischliche
mehr liebt als das, was vom Heiligen Geist erfüllt ist. Trotzdem wird ein solcher Mensch in der Regel auf
den rechten Weg geführt werden können und so das ewige Leben erhalten.

 

XLIV.
De invidia

Tiberius regnavit, qui ante sumptum imperium erat prudens ingenio, clarus eloquio, fortunatus in bello,
sed post resolutus militiae artibus nulla bella gerens populum Romanum graviter afflixit, filios proprios
pluresque patricios et consules interfecit.

Huic quidam artifex vitrum ductile se posse fabricare obtulit, quod Tiberius ad parietem projiciens non
fractum sustulit, sed curvatum, et artifex malleum proferens et velut cuprum vitrum fabricans mox
correxit. Interrogante autem Tiberio ab eo, quomodo hoc posset fieri, ille dixit, neminem hanc artem scire
super terram. Quem Tiberius mox decollari jussit dicens: "Si hec ars venerit in consuetudinem, pro nichilo
aurum et argentum reputabitur."

Moralisacio: Carissimi, iste Tiberius signat aliqos claustrales sive ceteros, qui, antequam ad dignitatem
sunt promoti vel divicias, satis humiles et pacientes sunt, sed cum promoventur, totom oppositum
operantur, et ideo dicetur communiter: "Honores mutant mores," et Psalmista: "Homo cum in honore
esset, non intellexit etc."
Artifex, qui vas obtulit, potest dici pauper, qui diviti munera offert, sed si ei non placent, nec vult recioere
sed magis contra eum accenditur et spoliat, immo ad mortem usque sepius punit.


44.
Das dehnbare Glas

Bevor Tiberius Kaiser wurde, war er ein Mann mit Geist und Witz, ein hoch geachteter Redner und ein
erfolgreicher General, aber als er sich später von der Kriegskunst abwandte und keine Kriege mehr führte,
unterdrückte er das römische Volk sehr und brachte seine eigenen Söhne und mehrere Patrizier und
Konsuln um.
Eines Tages erklärte ihm ein Künstler, er könne ein dehnbares Glas herstellen; Tiberius warf es an die
Wand und konnte es unzerbrochen wieder aufheben. Es war nur verbeult, und der Künstler holte einen
Hammer, bearbeitete das Glas wie einen Kupferkessel und brachte es schnell wieder in Ordnung. Als
Tiberius ihn fragte, wie dies möglich sei, antwortete er, dass niemand auf der Welt diese Kunst kenne.
Darauf ließ Tiberius ihn enthaupten und gab folgende Begründung: "Wenn sich diese Kunst verbreitet,
werden Gold und Silber nichts mehr wert sein."

Moralisation: Ihr liebsten Freunde, dieser Tiberius entspricht irgendwelchen Klosterbrüdern oder anderen
Menschen, die, bevor sie zu Ansehen oder Reichtum kommen, recht demütig und geduldig sind, aber wenn
sie Erfolg haben, ganz das Gegenteil tun, und deshalb lautet das Sprichwort: "Ansehen verändert die Sitten",
und der Psalmist spricht: "Wenn der Mensch zu Ansehen kommt, dann versteht er nicht mehr usw."

Der Künstler, der dem Kaiser das Gefäß vorführt, kann als ein armer Mann bezeichnet werden, der einem
Reichen Geschenke bringt, aber wenn sie jenem nicht gefallen, dann wirft er sie fort und will sie nicht
annehmen, sondern ärgert sich vielmehr über diesen und nimmt ihm alles weg, ja er straft ihn häufiger
sogar bis zum Tode.

 

L.
De laude recte judicantium

Refert Valerius, quod Zelongus rex edidit pro lege, quod, si quis viginem defloratet, utrumque oculum
amitteret. Accidit, quod filius ejus filiam unicam cujusdam vidue defloravit. Mater hec audiens imperatori
occurrens ait: "O domine, legem quam fecistis, impleri faciatis. Ecce unicus filius vester unicam filiam meam
rapuit et vi opperessit."

Rex hoc audiens commota sunt omnia viscera ejus et precepit, ut duo oculi filii sui eruerentur. Dixerunt
satrape domino: "Tantum unicum filium habes, qui est heres tuus. Toto imperio esset damnum, si filius tuus
oculos amittat." At ille: "Nonne vobis constat, quod ego legem edidi? Obprobrium esset michi frangere, quod
semel firmiter statui. Sed quia filius meus est primus, qui contra legem fecit, primus erit, qui penitencie
subjacebit." Sapientes dixerunt: "Domine propter deum rogamus vos, ut filio vestro parcatis." Ille vero
precibus devictus ait: "Carissimi, ex quo ita est, audite me! Oculi mei sunt oculi filii mei et e converso.
Dextrum oculum meum et sinistrum oculum filii mei! Tunc lex est impleta." Et sic factum est, unde omnes
prudenciam regis et justiciam laudabant.


50.
Die geteilte Sühne

Valerius berichtet, König Zelongus habe folgendes Gesetz erlassen: Wenn jemand eine Jungfrau
verführe, solle er beide Augen verlieren. Da geschah es, dass der Sohn des Königs die einzige Tochter
einer Witwe verführte. Als die Mutter davon erfuhr, lief sie zu dem Herrn und sagte: "O Herr, sorge dafür,
dass das Gesetz, das du erlassen hast, erfüllt wird. Euer einziger Sohn hat meine einzige Tochter gepackt
und vergewaltigt."

Als der König dies hörte, regte er sich furchtbar auf und befahl, dass seinem Sohn beide Augen
ausgestochen werden sollten. Da sagten die Höflinge zu ihrem Herrn: "Du hast nur einen einzigen Sohn,
der dein Erbe ist. Es wäre für das ganze Reich ein großes Unglück, wenn dein Sohn seine Augen verlöre."
Der König erwiderte: Ist euch denn nicht bekannt, dass ich ein Gesetz erlassen habe? Es würde mir Schande
bringen, wenn ich ein Gesetz bräche, das ich einmal erlassen habe. Aber weil mein Sohn der erste ist, der
gegen das Gesetz verstieß, wird er der erste sein, der die Strafe erleiden wird."
Die weisen Ratgeber sagten daraufhin: "Herr, wir bitten dich um Gottes Willen, dass Ihr Euren Sohn schont."
Er ließ sich schließlich von ihren Bitten erweichen und sprach: "Liebste Freunde, weil es so ist, hört mir zu:
Meine Augen sind die Augen meines Sohnes und umgekehrt. Ihr sollt mir das rechte und meinem Sohn das
linke Auge ausstoßen. Dann ist das Gesetz erfüllt."
Und so geschah es. Deshalb lobten alle die Klugheit und Gerechtigkeit des Königs.

 

LII.
De fidelitate

Refert Valerius, quod Fabius redemerat captivos Romanorum promissa pecunia, quam cum senatus dare
nollet, ipse fundum unicum habens vendidit et promissum premium solvit, volens se pocius patrimonio
privare, quam propria fide inopem esse.

Moralisacio:
Carissimi, Fabius iste est dominus noster Ihesus Christus, qui ob captivos, scilicet totum genus humanum a
diabolo captum, non pecuniam, sed proprium sanguinem dedit in precium, volens se pocius patrimonio
scilicet vita propria, privari, quam genus humanum dimittere.


52.
Der getreue Fabius

Valerius berichtet, dass Fabius römische Gefangene freigekauft hatte. Als der Senat die vereinbarte Summe
nicht zahlen wollte, verkaufte Fabius seinen einzigen Besitz, ein Landgut, und bezahlte den versprochenen
Preis. Denn er wollte lieber sein väterliches Erbe verlieren als sein Wort brechen.

Moralisation:
Liebste Freunde, dieser Fabius ist unser Herr Jesus Christus, der für die Gefangenen, d.h. für das ganze vom
Teufel gefangene Menschengeschlecht, kein Geld, sondern sein eigenes Blut gab, um zu bezahlen, weil er
lieber sein Erbe, d.h. sein eigenes Leben, verlieren als die Menschheit aufgeben wollte.

 

LIII.
De bonis rectoribus non mutandis

Valerius Maximus refert, quod, cum omnes Syracusani mortem Dionysii optarent regis Sicilie, quedam femina
senectutis ultime sola matutinis horis deos oravit, ut sibi rex superstes fieret in hanc vitam. Cujus oracionis
causam Dionysius admirans ab ea quesivit. Que respondit: "Cum essem puella, gravem tyrannum habens eo
carere cupiens secundum recepi, quo iterum carere cupiens tercium recepi; timens ergo deteriorem tibi
succedere; ideo pro vita tua omni die rogo." Dionysius hec audiens amplius molestiam non fecit.

Moralisacio:
Carissimi, in veteri testamento deus erat valde austerus et nulli parcebat, quia oculum pro oculo, dentem pro
dente etc., sed modo per carnem nostram, quam assumpserat, factus est nobis pius ac propicius, et ideo
continue orare debemus, ut nullum alium dominum habeamus quam dominum nostrum Ihesum Christum,
qui nobis prestare dignetur etc.


53.
Das Gebet für den Tyrannen

Valerius Maximus berichtet folgendes: Als alle Einwohner von Syrakus den Tod des Dionysius, des Königs von
Sizilien, herbeisehnten, habe als einzige eine sehr alte Frau jeden Tag am frühen Morgen die Götter gebeten,
der König möge sie überleben. Dionysius wunderte sich darüber und fragte sie nach dem Anlass ihres
Gebetes. Sie gab zur Antwort: "Als ich noch ein ganz junges Mädchen war, erlebte ich einen schlimmen
Tyrannen, wollte ihn loswerden und bekam einen zweiten, den ich auch wieder loswerden wollte, und da
bekam ich einen dritten. Ich fürchte also, dass dein Nachfolger noch übler ist." Deshalb bete ich jeden Tag für
dein Leben." Als Dionysius dies gehört hatte, verzichtete er in Zukunft auf jede Gewalt und Unterdrückung.

Moralisation:
Meine liebsten Freunde, im Alten Testament war Gott sehr hart und unerbitterlich und gewährte niemandem
Schonung. Denn es galt die Regel: "Auge um Auge, Zahn um Zahn usw." Doch später wurde er dadurch, dass
er unser Fleisch annahm, uns gegenüber gütig und gnädig, und deshalb müssen wir unablässig darum bitten,
keinen anderen Herrn zu bekommen als unseren Herrn Jesus Christus, der es für wert erachtet, uns seine
Liebe zu gewähren usw.

 

CIV.
De beneficiorum memoria

Quidam miles erat, qui super omnia venari dilexit. Accidit uno die, quod ad venandum perrexit. Occurrit leo
claudicans et pedem militi ostendit. Miles vero de equo descendit et spinam acutam de ejus pede extraxit et
unguentum vulneri apposuit, et sanatus est leo.
Post hoc vero rex illius regni in eodem nemore a casu venabatur et illum leonem accepit et multis annis
secum nutrivit. Miles ille contra regem forefecit et ad eandem forestam fugam peciit, omnes transeuntes
spoliavit et occidit. Rex vero illum captivavit et contra eum sentenciam dedit, ut leoni daretur ad
devorandum, et quod nichil aliud ad comedendum ei daretur ad hoc, ut militem devoraret. Miles vero, cum in
foveam esset projectus, multum timuit exspectans horam, quando devoraretur; leo vero eum intime respexit
et, cum noticiam ejus haberet, applausum ei fecit et septem diebus sine cibo remansit.
Rex vero cum hoc audisset, admirabatur, fecit militem de fovea extrahi et ait ei: "Dic michi, o carissime,
quomodo hoc potest esse, quod leo tibi non nocuit?" Qui ait: "Domine, a casu per forestam equitavi, leo iste
claudicans michi occurrebat, ego vero spinam de pede ejus extraxi et vulnus sanavi, et ideo, ut credo, michi
parcit." Ait rex: "Ex quo leo non nocuit tibi, ego tibi parcam, ammodo studeas vitam tuam corrigere." Ille vero
gracias regi reddidit et post hoc in omnibus est emendatus et finivit vitam suam in pace.

Moralisacio:
Carissimi, miles iste, qui venatus est, est homo mundanus, qui cotidie studet, quomodo bona mundana
poterit acquirere. Leo claudicans est totum genus humanum, quod per peccatum primi parentis claudicabat,
cui spina i. e. peccatum originale per baptismum erat extractum et <quod> cum unguento bonarum virtutum
<erat> salvatum.
Post hoc miles contra regem, deum omnipotentem, surgit, quociens mortaliter peccat et virtutibus spoliatur,
quas in baptismo recepit, sed leo scilicet genus humanum capitur, quociens divinis preceptis obligatur et in
foveam penitencie projicitur; si vero miles homo scil. peccator in eadem fovea projicitur, omne malum ei
evenire poterit immo bonum, quia salutem anime potest promerere. Ad quam nos perducat etc.


104.
Der dankbare Löwe

Es war einmal ein Ritter, der die Jagd über alles liebte. Eines Tages geschah es, dass er sich aufmachte,
um zu jagen. Da kam ihm ein hinkender Löwe entgegen und streckte ihm seine Tatze entgegen. Der Ritter
stieg vom Pferd, zog ihm einen spitzen Dorn aus der Tatze und behandelte die Wunde mit einer Salbe,
Dadurch wurde der Löwe wieder gesund.
Später aber jagte der König jenes Landes zufällig in demselben Wald, fing den Löwen und hielt ihn viele Jahre
lang bei sich gefangen. Der Ritter erhob sich gegen den König und suchte Zuflucht in demselben Wald.
Alle, die des Weges kamen, beraubte und tötete er. Der König aber konnte ihn gefangen nehmen und fällte
folgenden Spruch über ihn: Er sollte einem Löwen zum Fraß vorgeworfen werden, und diesem sollte nichts
anderes zu fressen gegeben werden, damit er den Ritter verschlänge. Als der Ritter in die Grube geworfen
worden war, hatte er große Angst und wartete auf die Stunde, wo er gefressen werden sollte. Der Löwe aber
betrachtete ihn ganz genau, und als er ihn erkannt hatte, gab er ihm seine Freude zu erkennen und blieb
sieben Tage lang ohne Futter.
Als dies dem König zu Ohren gekommen war, staunte er, ließ den Ritter aus der Grube ziehen und sprach
zu ihm: "Sag mir, mein Freund, wie kann es sein, dass dir der Löwe nichts zuleide tat?" Der Ritter
entgegnete: "Herr, ich ritt zufällig durch den Wald, da kam mir dieser Löwe hinkend entgegen, ich zog ihm
einen Dorn aus der Tatze und heilte seine Wunde. Deshalb, glaube ich, tut er mir nichts." – "Da dir der Löwe
nichts getan hat, werde auch ich dir Schonung gewähren, du musst dich nur darum bemühen, dein Leben
zu ändern." Der Ritter dankte dem König und wurde daraufhin in allen Dingen ein besserer Mensch.
Und er beendete seine Tage in Frieden.

Moralisation:
Liebste Freunde, dieser Ritter, der auf die Jagd ging, ist der Mensch der Welt, der sich täglich darum bemüht,
wie er die Güter der Welt gewinnen kann. Der hinkende Löwe ist das ganze Menschengeschlecht, das auf
Grund der Sünde Adams hinkte, dem der Dorn, d.h. die Ursünde, mittels der Taufe ausgezogen und das mit
der Salbe der Tugenden geheilt worden war.
Danach erhebt sich der Ritter gegen den König, den allmächtigen Gott, sooft er nach menschlicher Art
sündigt und seine Tugenden verrät, die er durch die Taufe erhielt. Aber der Löwe, d.i. das
Menschengeschlecht, gerät in Gefangenschaft, indem es durch die göttlichen Gebote verpflichtet und in die
Grube der Buße gestoßen wird. Wenn aber der Ritter, d.h. der Sünder, in diese Grube geworfen wird, dann
wird sich ihm das ganze Übel sogar zum Guten wenden können, weil er sich das Heil der Seele verdienen
kann. Dazu möge der Herr uns führen usw.

 

CXLVI.
De pirata e paupertas

Refert Augustinus in de civitate dei, quod Dionides pirata galea una longo tempore in mari homines spoliavit
et cepit. Qui cum multis navibus jussu Alexandri fuisset questius et tandem captus, et Alexandro presentatus,
eum interrogavit dicens: "Quare mare habet te infestum?" Ille statim respondit: "Quare te orbis terrarum?
Sed quia ego hocago una galeo, latro vocor; tu vero mundum opprimens naviums multitudine magna, diceris
imperator; sed si circa me fortuna mansuesceret, fierem melior; e converso tu quanto fortunacior tanto
deterior."
Alexander respondit: "Fortunam tibi mutabo, ne malicia tue fortune, sed meritis ascribatur." Sicque ditatus
est per eum et de latrone factus est princeps et zelator justicie.


146.
Der Seeräuber aus Armut

In seinem Werk "Der Gottesstaat" erzählt Augustinus, der Pirat Dionides habe mit seiner Galeere lange Zeit
Menschen auf dem Meer beraubt und gefangen genommen. Als er auf Alexanders Befehl mit vielen Schiffen
gesucht, schließlich gefasst und dann Alexander vorgeführt wurde, fragt ihn der König mit folgenden Worten:
"Warum bist du ein Feind des Meeres?" Der Pirat antwortete, ohne zu zögern: "Warum bist du ein Feind der
ganzen Welt? Doch weil ich meine Taten mit Hilfe einer einzigen Galeere begehe, nennt man mich einen
Seeräuber; wenn du hingegen die Welt mit einer riesigen Zahl von Schiffen unterdrückst, nennt man dich
einen König. Wenn sich freilich meine Lebensumstände besserten, dann würde auch ich mich bessern.
Je mehr sich hingegen deine Lebensumstände bessern, desto schlechter wirst du selbst sein."

Alexander erwiderte: "Ich werde dir ein besseres Leben ermöglichen, damit du nicht dein Schicksal, sondern
dein Handeln für deine Schandtaten verantwortlich machen kannst. " So wurde der Pirat durch Alexander zu
einem reichen Mann, und er wandelte sich von einem Seeräuber zu einem Fürsten und Verfechter der
Gerechtigkeit.

 

CXLIX.

Valerius narrat, quod quidam nobilis consilium sapientis quesivit, quomodo posset nomen suum dilatare.
Respondit, quod si virum illustrem occideret. Quo audito Philippum patrm Alexandri magni interfecit,
ut nomen sibi acquireret; sed ille cito post miserabili morte exstinctus est.

Moralisacio:
Carissimi, aliqui nobiles ac mundi potentes per mala opera sua acquirunt nomen mendacii, sed sine dubio per
illud nomen, quantum est in eis, dominum deum occident; ideo tales mala morte morientur, cum in inferno
sepeliuntur.


149.
Der Ruhm des Mörders

Valerius erzählt, ein vornehmer Mann habe einen Weisen gefragt, wie er seinen Namen in aller Welt bekannt
machen könne. Der Weise erwiderte, das sei möglich, wenn er einen berühmten Mann töte.
Daraufhin ermordete er Philipp, den Vater Alexanders des Großen, um sich einen Namen zu machen.
Aber der Mörder wurde kurz darauf durch einen erbärmlichen Tod ausgelöscht.

Moralisation:
Liebste Freunde, irgendwelche Vornehmen und Mächtigen der Welt erwerben sich durch ihre bösen
Taten den Ruhm der Täuschung und Lüge. Aber ohne Zweifel werden mit jenem Ruhm, wie groß er
auch ist, den Herrn, unseren Gott, töten; deshalb werden sie eines schlimmen Todes sterben, wenn sie in
der Hölle verscharrt werden.

 

CLXXXIII.

Refert Saturnus, quod Diogenes ita erat in paupertate positus, quod dolium habuit pro domo, cuius ostium ad
solem semper dirigebat. Ad quem in sole existente cum rex Alexander accessisset, dixit ei, quod peteret ab
eo, quidquid ei placeret. At ille: "Vellem pre ceteris, ut non stares inter me et solem." Et sic Alexander, qui
omnes naciones vicit, ab illo paupere victus est.

Reduccio:
Carissimi, per istum pauperem intelligitur quilibet nostrum, quia dixit psalmista: "Pauperes facti sumus
nimis." Dolium est vita nostra presens, nam sicut dolium versatile de loco ad locum, sic vita nostra presens
de statu ad statum. Nunc homo tristatur, nunc vero letatur, nunc infirmatur. Unde in isto dolio sedentes i. e.
in vita presenti semper debemus ad Christum, qui est sol justicie, verti.
Alexander magnus, qui querit, si aliquid velimus habere, est dyabolus, qui nobis ostendit vanitatem mundi,
nobis offert sua jocalia, a quo hoc solum debemus petere, ne stet inter nos et solem, qui non permittit, quod
sol, i. e. deus, det nobis lucem gracie sue. Sed sepe ponit aliquid temporale inter nos et solem, i. e. deum,
quod separamur ab eo. Amoveamur ergo omne impedimentum inter nos et deum, ut oculos nostros ad eum
dirigamus, et ipse properabit viam nostram.


183.
Der Mann im Faß

Saturnus erzählt, Diogenes sei so arm gewesen, dass er nur ein Fass als Wohnung besessen habe, dessen
Öffnung er stets zur Sonne hin ausrichtete. Als einmal König Alexander zu ihm gekommen war, während die
Sonne schien, sagte er zu Diogenes, er solle sich von ihm wünschen, was er wolle. Darauf erwiderte
Diogenes: "Ich wünsche mir vor allem, dass du nicht zwischen mir und der Sonne stehst." Und auf diese
Weise wurde Alexander, der alle Welt besiegte, von jenem armen Mann besiegt.

Reduktion:
Meine liebsten Freunde, in diesem Armen erkennt sich jeder von uns; denn der Psalmist sagt:
"Wir sind über die Maßen arm." Das Fass ist unser gegenwärtiges Leben; denn wie ein Fass von Ort zu Ort
bewegt werden kann, so ist unser Leben dauerndem Wandel unterworfen. Bald ist man betrübt, bald wieder
fröhlich, bald krank. Daher müssen wir uns in diesem Fass befinden, d.h. in unserem gegenwärtigen Leben,
uns immer zu Christus hinwenden, der die Sonne der Gerechtigkeit ist.
Alexander der Große, der danach fragt, ob wir etwas haben wollen, ist der Teufel, der uns die Eitelkeit der
Welt zeigt, uns seine Kostbarkeiten vorführt und von dem wir nur das eine erbitten müssen: dass er nicht
zwischen uns und der Sonne steht; und der nicht erlaubt, dass die Sonne, d.i. Gott, uns das Licht ihrer Gnade
leuchten lässt. Aber oft stellt der Teufel etwas Vergängliches zwischen uns und der Sonne, d.h. Gott, so dass
wir von ihr getrennt werden. Wir wollen also jedes Hindernis zwischen uns und Gott forträumen, um unsere
Augen zu ihm erheben zu können, und er selbst wird unseren Weg beschleunigen.

 


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