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Äsops Monument und die Tiere
Die Athener ließen dem Äsop eine Bildsäule errichten. Die
Vögel unter dem Himmel, und
die Tiere auf Erden versammelten sich zu einer
Beratschlagung, wie sie mit vereinigten
Kräften das Denkmal vernichten könnten. Lasset uns Rache an
dem Lästerer nehmen,
schrieen sie. Er hat uns die Fehler und Torheiten der
Menschen angedichtet.
Mag er immerhin, ließ sich eine Stimme aus dem Getümmel
hören. Zu den Hauptlastern
seines Geschlechts konnte er doch unter uns keine Bilder
finden.
Der Alte und der Prinz
Ein altes, buckliges, triefäugiges, zahnloses Weib hatte die
Wache bestochen, und
kam in das Zimmer eines Prinzen. "Wer zum Teufel hat die
Hexe hereingelassen,"
fluchte der Prinz, und kehrte ihr den Rücken.
"Vortrefflichster unter den Königssöhnen!"
fing die Alte an. Der Prinz drehte den Kopf ein wenig, und
sah eine ehrwürdige Matrone.
Der Ruf ihrer bewundernswürdigen Eigenschaften," fuhr sie
fort, "welcher in alle Welt
erscholl, hat mir Mut gemacht, mich Ihrem glänzenden Throne
zu nähern." Der Prinz
zeigte sich jetzt im Profil, tat einen Blick auf die
Supplikantin, und fand, daß die Alte in
ihren jüngern Jahren nicht ganz häßlich gewesen sein möchte.
"Vielleicht," verfolgte sie weiter, "wird mich der Prinz
anhören, dachte ich mit Zittern,
und hoffe es nun getrost, seitdem ich Ihr Angesicht gesehen
habe; Denn in der Hülle
eines Engels muß eine großmütige Seelen wohnen." Der Prinz
wandte sich um, und
sagte bei sich: >Ihre Bildung ist noch jetzt, das Alter
abgerechtet, ganz erträglich.<
"Wer ist sie? was will sie?" fragte der Prinz. "Ich nenne
mich," antwortete die Alte,
"die Wahrheit."
* * *
Die Hexe log. Es war die Schmeichelei.
Die Katze und
der Kanarienvogel
Ein Kanarienvogel hing in einem Zimmer und sang; Eine Katze
aber saß auf dem Boden,
und blickte mit unverwandten Augen nach dem Käfig.
>Wie mein Gesang das große Tier hier unten entzückt!< sprach
der Kanarienvogel bei
sich selbst, und trillerte mit verdoppelten Kräften, daß die
Wände des Zimmers
widerschallten. "Wie sich das kleine Närrchen dort oben
bemüht, mir zu gefallen!"
schnurrte Murner in seinen Bart. "In der Tat! Es wäre ein
niedliches Fressen für mich zum
Frühstück."
* * *
Zur Beherzigung für das Fräulein, das sich auf die gnädige
Attention des Prinzen oder für
das Bürgermädchen, das sich auf die Besuche des Junkers
etwas zu gut tut.
Die Nachteule und
die Lerche
"Ich unglücklicher Vogel!" uhute eine Nachteule aus ihrer
Höhle. "Alles flieht mich! Alles
überläßt mich meiner traurigen Einsamkeit." — "Stimme deine
Klagelieder um!" rief ihr
die Lerche zu. "Das sicherste Mittel, alle Glücklichen von
sich zu verscheuchen, ist der
Mißton des Jammers."
Merkur und die Tauben
Merkur war von Zeus zum Richter über die Vögel gesetzt. Da
kamen vor ihn die wilden
Tauben, erhuben eine Klage gegen die Tauben in der Stadt,
und sprachen: "Richter!
Alle Vögel, die sich dem Manntier unterworfen haben, und von
ihm Futter und Obdach
bekommen, bleiben in der Stadt. Nur unsere Brüder lassen
sich nicht begnügen, fliegen
über die Mauern zu Wald und Feld, und teilen mit uns die
wenige Speise, die uns die
Habsucht des Manntiers unter dem Himmel zu unserer Nahrung
gelassen hat. Steure
diesem Unrecht, wenn du gerecht bist!"
Die Stadttauben wurden gehört, und versetzten: "Wahr ist es,
Merkur, daß uns das
Manntier darreicht, um unsere Jungen dafür zu schlachten.
Aber die andere Hälfte
des Jahres müssen wir selbst für unsere Speise sorgen. Er
schenkt uns die Freiheit
aus Eigennutz. Sollten wir um seinetwillen verhungern?"
Merkur antwortete den Klägern: "Wenn es diese Beschaffenheit
hat, so kann ich euch
nicht helfen. Es sind Räte und Beamte, die auf halben Sold
und Sporteln angenommen
sind: Flieget in die Stadt, und laßt euch mein Urteil
erklären."
Der Löwe und die
Schlange
Ein Löwe sah, wie sich eine Schlange mühsam in hundert
Krümmungen durch Klippen
wand, und sprach zu ihr: "Du hast einen beschwerlichen Gang.
Warum gehst du nicht
gerade für dich hin?"
"Aus Klugheit," versetzte die Schlange. "Damit mich der
Wandrer nicht wahrnehme,
bis ich ihn in die Ferse gebissen habe." — "Und daß der,"
fuhr der Löwe fort, "der
ihm nachgefolgt, dich aus den Stücken deiner Haut, die du an
den Felsen, wodurch du
dich drängst, zurückläßt, ahnde, und dir mit dem Knüttel den
Kopf zerschmetterte, eben
weil du ihn in deiner Krümmung nicht sehen kannst. Glaube
mir auf krummen Wegen
ist keine wahre Klugheit."
Der alte und der
junge Stier
Ein junger Stier, welcher kaum wenige Tage zuvor in den
Pflug gespannt worden,
begegnete einem alten Stier des Nachbarn, und sah ganz
traurig zur Erden.
"Was fehlt dir?" Fragte dieser.
"Ach ich Elender!" Versetzte jener. "Gestern spannte mich
mein Herr in den Pflug.
Ich zog ihn den ganzen Tag unablässig. Ich arbeitete über
meine Kräfte. Und mein Herr
sprach, als er mich ausspannte, nichts, als kaltsinnig die
Worte: es ist schon gut.
Heut, als ich auf die Weide ging, schritt ich aus Mattigkeit
neben aus in sein Kleefeld,
und zertrat eine Hand voll Futter. Da hättest du ihn sollen
fluchen hören!" —
"Du kennst unsere Herrscher noch nicht," sprach der alte
Stier, "sonst müßtest du schon
wissen, daß alles, was wir ihnen tun, nur Schuldigkeit,
alles andere aber
unverzeihlicher Fehler heiße."
* * *
Bei Gott! Diese Stiere waren nicht die Stiere gemeiner
Bauern!
Die Wachtel
und der Handwerksmann
Ein Handwerksmann nährte eine gefangene Wachtel vor dem
Fenster seiner Schlafkammer.
Wie sie anfing zu schlagen, stand er von seinem Lager auf,
sang sein Morgenlied und
ging an seine Arbeit.
Jetzt fiel ihm eine kleine Erbschaft zu, die ihn in
gemächlichere Umstände versetzte.
Bald wurde ihm der Schlag seiner Wachtel beschwerlich. Er
bedeckte ihren Käfig, daß sie
den anbrechenden Morgen nicht sehen sollte, und fütterte sie
mit Murren.
Endlich sagte er zu seinem Weibe: "Sieh, wie der Vogel so
rund ist. Auch läßt er sich
sein frühes Schlagen nicht verwehren. Ich habe gehört, daß
eine fette Wachtel ein
herrliches Essen sei. Brate sie mir zum Abendbrot."
"Würge mich nur, Grausamer!" sprach die Wachtel, da er sie
herausriß. "Meine Rächerin
ist im Anzug. Faulheit rief ihr, Leckerhaftigkeit gibt ihr
Flügel. Sie heißt Armut."
Die rechte und
die linke Hand
Die rechte Hand erhob sich einst wider die Linke, und gab
ihr höhnisch ein Zeichen,
daß sie schreiben sollte.
Die Linke schrieb, aber es war ein unleserliches Gekritzel.
Jetzt bedeutete die linke Hand der Rechten, das Kleid auf
der Brust zuzuknöpfen.
Stolz machte sich die Rechte an diese leichte Arbeit, und
verrichtete sie mit vieler
Mühe und Zeitverlust.
"Vertragt euch schwesterlich miteinander, meine Lieben!
sprach das Haupt. Jede von
euch besitzt die größte Geschicklichkeit darin, wozu sie
gebraucht wird. Die Natur schuf
eurer zwei, weil eine nicht alles kann."
Die Stärke des Herkules
Sah die Gondeler in Venedig ein Spiel spielen, daß sie die
"Stärke des Herkules" nennen.
Zehn Männer mit breiten Schultern und eisernen Knochen
stellten sich zusammen.
Vier andere stiegen ihnen auf die Schultern, diesen drei,
dann zwei, endlich einer.
Der letzte hatte einen zarten Knaben mit sich hinauf
genommen, oder aus dem nächsten
Fenster zubieten lassen, hielt ihn als den Kopf der
lebendigen Spitzsäule in die Höhe,
und der Junge rief: Victoria!
Mußte lächeln des Knaben.
Als aber die Jungen auf der Straße ihren Schulgesellen, den
der Mann mit sich
hinauf genommen hatte, rufen hörte, schrieen sie alle mit
heller Stimme: Victoria!
Mußte laut lachen.
Die Raupe und
der Schmetterling
Ein Schmetterling sah eine Raupe auf einer seltenen Pflanze
sitzen, und ohne aufhören
fressen. "Törin!" rief er ihr zu. Wie unüberlegt du
handelst! Du wirst die Pflanze
entblättert haben, ehe die Zeit deiner Verwandlung
herbeikommt, und dann wirst du
Hungers sterben müssen. Siehst du nicht, daß weit und breit
um dich kein Kraut dieser
Art mehr wächst?" — "Tor!" antwortete die Raupe dem
Schmetterling. "Du wagst es
nicht, die Blumen zu berühren, die in unzählbarer Menge um
dich herum blühen.
Und wenn die Sonne wieder aufgeht, wirst du nicht mehr
sein!"
* * *
Habt beide recht. Der Geiz und die Verschwendung sind gleich
schlechte Rechenmeister.
Die Waage der Fama
Über einem Heuchler, dessen Freveltaten schwerer in die
Schale fielen, als es selbst der
Richter der Toten vermutet hatte, zerbrach die Waage des
Rhadamanthus.*
"Die Zahl der Seelen, deren Handlungen noch gewogen werden
sollen, ist groß," sagte
dieser zum Merkur. "Bringe mir von der Oberwelt die Waage
der Fama, bis mich Zeus mit
einem neuen Werkzeug meines Richteramts wird versehen
haben."
Merkur eilte dahin; Kehrte lächelnd mit der Waage wieder;
Rhadamanthus wog, und urteilte.
"Bleibt!" rief Merkur den neuverurteilten Seelen zu. "Der
Richter hat falsch gesprochen."
"Falsch!" wiederholte Rhadamanthus mit gerunzelter Stirne.
"Ja!" Versetzte Merkur. "Die Waage der Fama ist betrüglich.
Untersuche die Schalen."
Rhadamanthus untersuchte, und fand zum Erstaunen, daß die
Schale, worin die Fehler
gelegt wurden, weit schwerer war, als die für die guten
Eigenschaften bestimmte Schale.
"Götter!" rief er aus. "Und auch diese falsche Waage trägt
den Stempel des Jupiters!"
"Ja," versetzte Merkur. Zwar hat sie die Bosheit der
Menschen geschmiedet; aber dennoch
genehmigte sie Zeus, um den Klugen gegen jede Nachlässigkeit
durch die Betrachtung
zu schützen, daß so viel Pfunde guter Eigenschaften nötig
seien, einen einzigen Gran
Fehler aufzuwägen."
Der Richter der Unterwelt bewunderte Jupiters Weisheit,
schickte Famen ihr Werkzeug
zurück, und erhielt vom Olymp eine gerechte Wage.
*Sohn
des Jupiter und der Europa. Nach seinem Tode wurde
Rhadamanthus wegen seiner
Gerechtigkeit einer der Richter der Unterwelt und lebte in
den elysischen Gefilden.
Quelle: Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart
1874
Cerberus und
der Mops des Fürsten
Cerberus hielt Wache vor der Türe des finstern Hauses, als
ein schöner Mops angetrabt kam.
"Woher dicker kleiner Kamerad?" rief ihm jener entgegen.
Deinem Wanst nach
warst du der Schoßhund eines Weibes, und hast dich auf der
Oberwelt zu Tode gefressen."
"Nicht erraten!" keuchte der neue Ankömmling. Ich war was
höheres. Der Liebling, aber
auch der getreueste Diener eines Fürsten."
"Und so fett!" erwiderte jener, indem er seine drei Köpfe
zum Zeichen der Verwunderung
schüttelte. "Aber was hast du für einen roten Fleck auf
deiner schwarzen Schnauze?"
"Es ist ein Gnadenzeichen," sprach Möpschen. "Wenn der Fürst
in der Laune war, so ließ
er mir geschmolzenes Siegellack auf die Nase träufeln, und
drückte sein Wappen
darauf. Ich litt es, wie einem treuen Diener geziemt,
geduldig. Aber jüngst schlug der
Brand dazu, und schickte mich in die Unterwelt."
"Daß dich der Geier mit deiner Treue!" brüllte Cerberus, daß
die höllische Pforte
widerschallte. "Wenn die Lieblinge der Fürsten solche
Gnadenzeichen bekommen,
wie müssen sie denn denen mitspielen, welchen sie ungnädig
sind?"
"Du hast, scheint es," sagte Mops, "keinen Begriff von
Attachment. Ich hatte außerdem
ein vortreffliches Leben, ruhte auf einem samtenen Polster
mit Golde, fraß Zucker und
Konfekt aus den Händen meines gnädigsten Herrn, wurde vor
allen andern Hunden von
ihm geliebt, und sogar von Hofleuten beneidet."
"Herein!" brummte Cerberus mit Verachtung, weil du ein Mops
bist. Aber laß mir die
Hundeseelen kommen, die einst in Menschengestalt
dahergingen, und dich beneiden könnten!"
Der Lockvogel
Ein Vogelsteller hatte seinen Herd aufgestellt, und einen
Lockvogel dazugesetzt, welcher
sehr schön singen konnte.
Die Vögel hörten den Gesang, flogen herbei, und sprachen
untereinander: Was hier ein
Überfluß von Speise liegt, und wie freundlich unser Geselle,
dem es so wohl ist,
uns dazu einladet. Wir wollen die Gelegenheit benützen!
Kaum hatten sie zu fressen angefangen, so ließ der
Vogelsteller das Garn fallen, und sie
verloren Freiheit und Leben.
Ein Vogel nur hatte sich in der Entfernung gehalten, und der
Lockvogel rief ihm zu:
"Wer hat dich allein so klug gemacht, daß du nicht näher
kamst?"
"Mein Vater," antwortete der andere, "sagte mir: Sohn! wenn
man dir einen großen
Vorteil zeigt, welcher ohne Mühe zu erlangen ist, so hüte
dich. Es liegt Betrug im Hinterhalt."
Die Stadtkatze
und die Feldkatze
Eine Stadtkatze, welche zum Mäusefang zu träge, und zum
Diebstahl zu flink war,
wurde von ihrem Herrn verurteilt, in den Wald getragen, und
daselbst verlassen zu werden.
Als sie einige Zeit in dem Gebüsche schüchtern
herumgeschlichen war, erblickte sie
eine wilde Katze, und sprach zu ihr: "Sei mir gegrüßt,
freier Bürger dieser Wälder;
dessen durchdringender Blick die Erhabenheit einer edlen
Seele verkündigt. Ich würde
dich Bruder nennen, da wir von einer Art sind, wenn ich
nicht aus dem Lande der
Sklaven käme, wo das Katzengeschlecht in Tellerlecker und
Dümmlinge ausgeartet ist,
von der Gnade des Manntiers lebt, und sich kaum erkühnt, ein
Mädchen in die Finger zu
beißen. Die Elenden! Ja, sie verdienen durch ihre Feigheit
die Rute, womit man sie
züchtigt, und das Halsband, womit man sie fesselt. Doch du
wirst mich deiner
Freundschaft würdigen, du wirst mich mit auf die Jagd
nehmen, mich, der ich, meiner
höheren Bestimmung eingedenk, das beschämende Joch
abschüttelte, den kriechenden
Katzengesichtern der Stadt und ihren Despoten Hohn sprach,
und sie, die mich
verkannten, weil sie meiner nicht wert waren, mit Verachtung
verließ!"
Die wilde Katze ging weiter, ohne ein Wort zu sagen, und die
Stadtkatze rief ihr nach:
"Warum fliehst du mich, Bruder? Ich muß dir noch viel
erzählen."
"Deine Klagen über die Stadt habe ich gehört, antwortete die
Feldkatze. Nun will ich auch
hören, was man in der Stadt über dich zu klagen hat. Es ist
unglaublich, daß ein
Aufenthalt, wie du ihn schilderst, einen Geist von deiner
Größe sollte hergebracht oder
ohne Ursache von sich gelassen haben."
* * *
Albernheit verrät, wer gegen die Vorzüge des Auslands blind
ist: Bosheit und heimliche
Rache, wer seinem Vaterland Hohn spricht.
Der kranke
Bauer und sein Vetter
Ein reicher Bauer, welcher keine nahen Anverwandten hatte,
lag auf dem Krankenbette,
und wurde fleißig von einem Fleischer aus der Stadt besucht,
der sich für seinen Vetter ausgab.
Einst drang der Hund des Kranken in die Stube; Ein großer
wolfsgestriemter Hund.
Der Fleischer streichelte denselben und sprach zum Kranken:
"Ha, Vetter! was ihr hier für
einen schönen Hund habt! Eine herrliche Satteldecke würde
sein Balg geben!"
"Packe dich von mir!" ächzte der Kranke. Nun weiß ich, warum
du mich streichelst.
Der neue König der
Tiere
Der alte König der vierfüßigen Tiere, der Löwe, war
gestorben. Die Untertanen hatten viel
unter der Regierung des Fressers erlitten, darum wählten sie
an seine Stelle den
weidenden Hirsch. Aber der Hirsch nahm zu seinem Vertrauten
den Wolf.
Einst trat der neue König aus dem Wald um sich an dem
freudigen Zuruf der Liebe seiner
Untertanen zu ergötze, und erstaunte, als eine ganze Herde
Schafe bei seinem Anblick
die Flucht ergriff.
"Was flieht ihr mich, ihr Undankbaren!" rief ihnen der
Hirsch nach: mich, der keinen
Tropfen eures Blutes vergossen hat, noch je vergießen wird."
"Was ein Fürst zuläßt," blökte eines von den Fliehenden
zurück, tut er selbst."
Der Marder und der
Bauer
Ein Marder hatte sich in den Taubenschlag eines Bauern
geschlichen, und war auf dem
Rückweg begriffen, als ihm der Eigentümer des Hauses auf der
Treppe begegnete.
Der Bauer wußte noch nicht, daß ihm seine Tauben gefressen
worden, und würde den
Täter nicht einmal gesehen haben, wenn nicht dieser, welcher
sich für entdeckt hielte,
ihn angeredet hätte.
"Guten Morgen!" sagte der Marder. "Seid ihr schon so früh
aufgestanden? Ich habe zwar
auch wenig geschlafen, ungeachtet ich kein solcher Marder
bin, der bei Nacht Leuten die
Tauben frißt."
"Ha, ha, guter Freund!" antwortete der Bauer. "Bist du da?
Holla Jungen! Prügel her!
Schlagt den Taubenfresser tot!"
Die Jungen kamen, und der edle Marder mußte seine
unverlangte Entschuldigung mit
dem Leben bezahlen.
* * *
Wie könnte es einem ehrlichen Mann einfallen, sich seiner
Ehrlichkeit zu rühmen?
Der Erbprinz,
sein Vertrauter und sein Fohlen
Einem Erbprinzen hatte sein Vater ein Fohlen geschenkt, mit
welchem er sich manche
Stunde vergnügte.
Einst als der Prinz es auf dem Hofplatz herumjagte, bald mit
Zucker herbeilockte; bald
das Tierchen den Prinzen, bald der Prinz das Tier verfolgte;
bald er ihm einen leichten
Peitschenhieb versetzte, bald das Fohlen, sich rächend, nach
ihm ausschlug, sagte der
Vertraute des Prinzen, der dabei stand. "Ha! wie er dich
dafür reiten wird, wenn du
erwachsen bist!"
"Ha!" wieherte das Füllen dem Vertrauten zurück. "Wie er
dich für die Gnade seiner
jetzigen Vertraulichkeit hassen wird, wenn er zur Regierung
kommt!"
Der Wolf, der
Tiger und der Fuchs
Ein Wolf war in eine Grube gefallen, und heulte jämmerlich.
Auf sein Geheul kam ein Tiger und ein Fuchs an die Grube.
"So geht's den Räubern!" rief der Tiger hinab. "Die
unschuldigen Schafe, die du
zerrissest, haben dir diese Strafe zugezogen. Sie folgt dem
Verbrecher auf dem Fuße."
"Gewiß," grinste der Fuchs, "und das letzte Lamm, das er
stahl, war sogar dem Pan zum
Opfer geweiht! O die Götter sind gerecht!" -
"Hebet euch von hinnen!" schrie der Wolf, "Elende! Wohl sind
sie gerecht; Aber daß ihr
sie predigt, ist Lästerung der Götter. Wer andere richten
will, muß selbst rein sein."
Der Salamander
und die Eidechse
Eine Eidechse begegnete einem Salamander, dessen halbe Haut
verbrannt war, und
welcher seine letzten Kräfte anstrengte, davon zu laufen.
"Was ist dir widerfahren, Herr Stiefbruder?" rief sie dem
Salamander nach, "daß du so
ängstlich fliehest, und so jämmerlich zugerichtet bist."
"Ah!" seufzte dieser. "Ich bin in die Hände eines der
Manntiere geraten, welche sich
Naturforscher nennen, und mit kaltem Blut alle erdenkliche
Grausamkeiten gegen andere
Tiere erlauben. Diese Bestie hat mich ins Feuer geworfen,
weil ein alter Geck von mir
geschrieben haben soll, daß ich im Feuer leben könnte. Ich
wollte, daß dieser und jener
ertrunken wären, ehe sie meinen Namen hätten nennen hören!"
"Hem!" zischte die Eidechse. "So kann man auch seinem
Freunde schädlich werden,
wenn man mehr von ihm verspricht, als er zu leisten vermag."
Das Licht und die
Lichtschere
Das brennende Licht sah herab auf die Lichtschere, und
fragte: "Wer bist du?"
Die Lichtschere antwortete stolz: "Ich bin ein Ding, welches
dich heller machen, oder
auslöschen kann."
Das Licht versetzte: "Kannst du auch selbst leuchten?"
* * *
Könnte nicht mancher Schriftsteller seinem ungenannten
hämischen Rezensenten die
nämliche Frage machen?
Die Henne und ihre
Kollegen
Eine Henne scharrte auf einem lockeren Boden, und fand einen
Haufen Weizenkörner.
Sie lockte freudig den Hahn, und die anderen Hennen herbei,
welche die Körner rein auffraßen.
Eben diese Henne scharrte wieder, und fand nichts.
Da eilte der Hahn mit den anderen Hennen herzu, und sprach
zornig: "Du hast die
gefundenen Körner allein aufgefressen."
Und alle Hühner schrieen ihm nach: "Sie hat sie allein
aufgefressen!" und pickten sie tot
mit ihren Schnäbeln.
* * *
Das arme Huhn starb den Märtyrertod eines redlichen
Kameralisten.
Der träumende Haushund
In der Kinderstube eines adeligen Hauses lag ein Hund unter
dem Ofen, wo er ganze
Tage zu schlafen gewohnt war, und schnarchte. Auf einmal
fing er an zu zucken, und zu
murren.
Eine Katze, die neben ihm saß, strich ihm mit der Pfote über
die Nase, und sprach zu
dem Erwachenden: "Danke mir, dass ich dich weckte. Du hast
sehr unruhig geschlafen."
Ich wollte, daß dir die Pfote lahm würde!" Brummte der Hund
ihr entgegen. "Ich hatte den
angenehmsten Traum von der Welt. Mir träumte, daß ich ein
starkes wildes Schwein
hetzte. Ha! Was dies für eine Freude war!"
"Hum!" antwortete die Katze, indem sie langsam davonschlich.
"Es ist leicht, im Traum
zu hetzen. Man bekommt keine müden Beine."
* * *
Als die Tiere dieses redeten, schlug der Hofmeister in der
Ecke des Zimmers ein Buch zu,
und sagte seufzend: "Ach! wie leicht ist's, in Büchern
Kinder zu erziehen!"
* * *
Der Wanderer
Zwei Wanderer kamen in ein enges Tal, welches von hohen
Felsen zu beiden Seiten
begrenzt wurde, die aber jetzt keinen Schatten warfen: denn
es war um die
Mittagsstunde eines schwülen Sommertags.
Ungefähr erblickten sie ein überhängendes Felsstück, welches
eine Grotte bildete,
in welcher kühl zu sitzen war.
"Hier wollen wir Mittag halten," sagte der eine zu dem
anderen. Dieser aber antwortete:
"Freund, das Tal währt nicht lang, und am Ende desselben
liegt ein wirtschaftliches Dorf,
wo wir ruhen können. Lasset uns vollends die liebe Sonne
ertragen, und unseren Weg
fortsetzen."
Der andere wollte nicht, sondern setzte sich in die Grotte,
und lachte laut seines
Gefährten, welcher in der Mitte des Tals hinwandelte, und
sich oft den Schweiß
abzutrocknen genötigt wurde.
Bald hatte dieser den Ausgang des Tals erreicht, als er
zurücksah, ob der andere nicht
nachkäme. Und siehe, der Überhang des Felsen war nicht mehr
zu finden. Er war
eingestürzt, und hatte den sich keines Unglücks besorgenden
Wanderer unter seinen
Trümmern zerschmettert, und begraben.
* * *
Es ist sehr bequem unter dem Schatten großer Gönner und
Anverwandten die Laufbahn
dieses Lebens zu wallen; und die Sonne brennt denjenigen
hart auf den Nacken, dem sie
mangeln. Aber oft stürzen diese erhabenen Felsen, und
erdrücken alle, die sich unter
ihrem Abhang befinden. Der gute Himmel hingegen fällt
niemals ein.
Der getürmte
Elefant und das Kamel
Einer von den Streit-Elefanten des großen Pyrrus ging einst
mit seinem Turm belastet
neben einem Kamel, und seufzte so tief, daß dieses bewogen
wurde, ihn um die
Ursache seiner Traurigkeit zu befragen.
"Warum sollte ich nicht seufzen!" antwortete der Elefant.
"Siehst du nicht die ungeheure
Bürde, womit Menschen meinen Rücken beschwert haben? Und den
Zwang des Führers,
der auf meinem Nacken sitzt, und mich, nicht wohin ich,
sondern wohin er will, gehen macht?"
"Du hast deiner angeborenen Stärke vergessen," versetzte das
Kamel. "Wie wenn du den
Turm, der dich drückt, dort an jener Eiche zerschmetterst,
und den Wurm, der jetzt dein
Führer heißt, samt den Würmern im Kasten, in den Kot
trätest?"
Der Elefant schien sich zu bedenken. Die Sonne brach durch
die Wolken hervor. Er sah
seinen eigenen Schatten: "Es ist doch eine Pracht," sprach
er, "ein solches Gebäude zu
tragen! Und siehe dort das Heer der Römer. Sie staunen, sie
beben, die Helden, vor
meinem fürchterlichen Anblick! Noch diese Schlacht will ich
gewinnen helfen, und dann
deinen Rat – überlegen."
* * *
Warum werden große Ehrenstellen so drückend beschrieben, und
so selten freiwillig
niedergelegt?
Der Bauer und die Dohle
Ein Bauer hörte, daß einer in dem Neste einer Dohle einen
Edelstein gefunden habe.
Er haschte also eine Dohle, und brachte sie unter sein Dach.
Wenn sie zahm ist, sprach
er bei sich selbst, will ich sie ausfliegen lassen, und sie
wird selten wiederkehren, ohne
mir einen Schatz mitzubringen. Aber einst sah der Vogel eine
noch halb glühende Kohle,
trug sie in das Nest, und Haus und Scheuer seines Wohltäters
mit aller Habe wurden
ein Raub der verzehrenden Flammen.
* * *
So freiet der Geizige nach einem reichen Weibe, und wird
durch sie zum Bettler.
Alcibiades
und der verstümmelte Faun
Als Alcibiades einst bei seinen Nachtschwärmereien an den
schlechten Bildsäulen seiner
Vaterstadt Mutwillen ausübte, fiel ihm der hölzerne Arm
eines Fauns, den er abschlug,
auf die Nase, daß er blutete.
"Ha!" lachte eine Stimme aus dem verstümmelten Faun, "was du
für ein Weichling bist!
Du blutest, und ich fühle den Verlust meines Armes nicht." –
"Du wirst dir doch," sprach
Alcibiades, "deinen Stoff nicht zum Verdienst rechnen
wollen?"
* * *
Natürliche Unempfindlichkeit ist weder Philosophie, noch
Tugend.
Alcibiades, war ein ausgezeichneter griechischer Feldherr um
das Jahr 420 v. Chr.
Chiron
Chiron nahm den jungen Achill, den er in der Arzneikunst
unterrichtet hatte, einst mit zu
einem Krankenbesuch.
Sie kamen zu einem Schwindsüchtigen, dessen bekümmerte Frau
den Chiron hatte rufen lassen.
Der Kranke sprach mit schwacher Stimme, als er den Arzt
erblickte: "Ich weiß nicht,
warum man dich schon wieder hierher bemühte, da ich mich so
wohl befinde. Ich habe
zwar einen leichten Katarr. Aber ich esse, trinke, schlafe
gut, und meine Kräfte sind
die nämlichen. Wenn sich nur die gute Witterung bald
einstellte, so würde ich auf das
Land gehen."
Chiron fühlte den Puls, verordnete, und ging zu einem
Hypochondristen, welcher vor der
Morgenröte schon seinen Sklaven zu ihm geschickt, und sich
seinen ersten Besuch
ausgebeten hatte.
Den Angstschweiß auf der Stirne lag er im Bette, und sprach
zum Arzt: "Ach! daß du
mich so lange hilflos schmachten ließest! Ich glaubte, dich
nicht mehr zu sehen.
Ich fühle den nahen Tod in allen Adern. — — Ach!"
Er konnte nicht weiter sprechen. Chiron fühlte auch diesem
den Puls, verordnete,
und ging weiter.
"Welcher von beiden dünkt dich," sprach er den Achill auf
dem Wege, "der gefährlichste zu sein?"
Achill: "Ohne Vergleichung der Letzte." – "Du irrst dich,"
sagte Chiron.
"Die verzweifelsten Kranken jeder Gattung sind diejenigen,
welche sich und andere
überreden wollen, daß sie gesund seien."
Die Strafgerechtigkeit
Einst hatten die Räubereien der Vögel sehr überhand
genommen, und es kam Klage für den Zeus.
Jupiter ließ den Adler durch seinen Boten befehlen, dem
Unwesen zu steuern.
Sogleich befahl der Adler, daß man dem Kolibri einige
Schwungfedern ausrupfen sollte,
damit dieser Vogel nicht mehr so weit streifen könnte.
Merkur stellte fest, daß dieses der kleinste, der
unschädlichste unter allen Vögeln sei.
Es half aber nichts. Der Adler antwortete: "Man muß an den
Kleinen Exempel statuieren,
damit sich die Großen daran spiegeln mögen."
Der Bote kam zurück, erzählte mit Unwillen, was er
ausgerichtet hätte, und Jupiter fing
an, aus vollem Halse zu lachen.
"Nun möchte ich doch wissen," sagte Merkur, was daran
lachenswürdig wäre!"
"Ich vergaß mich, sprach Zeus," und zog sein Gesicht wieder
in die Falten des hohen
Ernstes. "Aber, es fiel mir ein, daß ich es, als ich noch
König in Kreta war, gerade wie
der Adler gemacht hatte."
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