Fabelverzeichnis
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Johann Friedrich August Kazner
27.05.1732 – 28.12.1798

Anwalt, Dichter, Schriftsteller und
deutscher Epigrammdichter.

Quelle:
Johann Friedrich August Kazner/Fabeln, Epigramme und Erzählungen
Frankfurt am Main 1786/bey Barrentrap Sohn und Wenner
Buch 1
 
Äsops Monument und die Tiere
Der Alte und der Prinz
Die Katze und der Kanarienvogel
Die Nachteule und die Lerche
Merkur und die Tauben
Der Löwe und die Schlange
Der alte und der junge Stier
Die Wachtel und der...
Die rechte und die linke Hand
Die Stärke des Herkules
Die Raupe und der Schmetterling
Die Waage der Fama
Cerberus und der Mops des Fürsten
Der Lockvogel
Die Stadtkatze und die Feldkatze
Der kranke Bauer und sein Vetter
Der neue König der Tiere
Der Marder und der Bauer
Der Erbprinz, sein Vertrauter und sein..
Der Wolf, der Tiger und der Fuchs
Der Salamander und die...
Das Licht und die Lichtschere
Die Henne und ihre Kollegen
Der träumende Haushund
Der Wanderer
Der getürmte Elefant und das...
Der Bauer und die Dohle
Alcibiades und der verstümmelte...
Chiron
Die Strafgerechtigkeit


Äsops Monument und die Tiere


Die Athener ließen dem Äsop eine Bildsäule errichten. Die Vögel unter dem Himmel, und
die Tiere auf Erden versammelten sich zu einer Beratschlagung, wie sie mit vereinigten
Kräften das Denkmal vernichten könnten. Lasset uns Rache an dem Lästerer nehmen,
schrieen sie. Er hat uns die Fehler und Torheiten der Menschen angedichtet.
Mag er immerhin, ließ sich eine Stimme aus dem Getümmel hören. Zu den Hauptlastern
seines Geschlechts konnte er doch unter uns keine Bilder finden.

Der Alte und der Prinz

Ein altes, buckliges, triefäugiges, zahnloses Weib hatte die Wache bestochen, und
kam in das Zimmer eines Prinzen. "Wer zum Teufel hat die Hexe hereingelassen,"
fluchte der Prinz, und kehrte ihr den Rücken. "Vortrefflichster unter den Königssöhnen!"
fing die Alte an. Der Prinz drehte den Kopf ein wenig, und sah eine ehrwürdige Matrone.

Der Ruf ihrer bewundernswürdigen Eigenschaften," fuhr sie fort, "welcher in alle Welt
erscholl, hat mir Mut gemacht, mich Ihrem glänzenden Throne zu nähern." Der Prinz
zeigte sich jetzt im Profil, tat einen Blick auf die Supplikantin, und fand, daß die Alte in
ihren jüngern Jahren nicht ganz häßlich gewesen sein möchte.
"Vielleicht," verfolgte sie weiter, "wird mich der Prinz anhören, dachte ich mit Zittern,
und hoffe es nun getrost, seitdem ich Ihr Angesicht gesehen habe; Denn in der Hülle
eines Engels muß eine großmütige Seelen wohnen." Der Prinz wandte sich um, und
sagte bei sich: >Ihre Bildung ist noch jetzt, das Alter abgerechtet, ganz erträglich.<
"Wer ist sie? was will sie?" fragte der Prinz. "Ich nenne mich," antwortete die Alte,
"die Wahrheit."

* * *

Die Hexe log. Es war die Schmeichelei.

Die Katze und der Kanarienvogel

Ein Kanarienvogel hing in einem Zimmer und sang; Eine Katze aber saß auf dem Boden,
und blickte mit unverwandten Augen nach dem Käfig.

>Wie mein Gesang das große Tier hier unten entzückt!< sprach der Kanarienvogel bei
sich selbst, und trillerte mit verdoppelten Kräften, daß die Wände des Zimmers
widerschallten. "Wie sich das kleine Närrchen dort oben bemüht, mir zu gefallen!"
schnurrte Murner in seinen Bart. "In der Tat! Es wäre ein niedliches Fressen für mich zum
Frühstück."

* * *

Zur Beherzigung für das Fräulein, das sich auf die gnädige Attention des Prinzen oder für
das Bürgermädchen, das sich auf die Besuche des Junkers etwas zu gut tut.

Die Nachteule und die Lerche

"Ich unglücklicher Vogel!" uhute eine Nachteule aus ihrer Höhle. "Alles flieht mich! Alles
überläßt mich meiner traurigen Einsamkeit." — "Stimme deine Klagelieder um!" rief ihr
die Lerche zu. "Das sicherste Mittel, alle Glücklichen von sich zu verscheuchen, ist der
Mißton des Jammers."

Merkur und die Tauben

Merkur war von Zeus zum Richter über die Vögel gesetzt. Da kamen vor ihn die wilden
Tauben, erhuben eine Klage gegen die Tauben in der Stadt, und sprachen: "Richter!
Alle Vögel, die sich dem Manntier unterworfen haben, und von ihm Futter und Obdach
bekommen, bleiben in der Stadt. Nur unsere Brüder lassen sich nicht begnügen, fliegen
über die Mauern zu Wald und Feld, und teilen mit uns die wenige Speise, die uns die
Habsucht des Manntiers unter dem Himmel zu unserer Nahrung gelassen hat. Steure
diesem Unrecht, wenn du gerecht bist!"
Die Stadttauben wurden gehört, und versetzten: "Wahr ist es, Merkur, daß uns das
Manntier darreicht, um unsere Jungen dafür zu schlachten. Aber die andere Hälfte
des Jahres müssen wir selbst für unsere Speise sorgen. Er schenkt uns die Freiheit
aus Eigennutz. Sollten wir um seinetwillen verhungern?"
Merkur antwortete den Klägern: "Wenn es diese Beschaffenheit hat, so kann ich euch
nicht helfen. Es sind Räte und Beamte, die auf halben Sold und Sporteln angenommen
sind: Flieget in die Stadt, und laßt euch mein Urteil erklären."

Der Löwe und die Schlange

Ein Löwe sah, wie sich eine Schlange mühsam in hundert Krümmungen durch Klippen
wand, und sprach zu ihr: "Du hast einen beschwerlichen Gang. Warum gehst du nicht
gerade für dich hin?"
"Aus Klugheit," versetzte die Schlange. "Damit mich der Wandrer nicht wahrnehme,
bis ich ihn in die Ferse gebissen habe." — "Und daß der," fuhr der Löwe fort, "der
ihm nachgefolgt, dich aus den Stücken deiner Haut, die du an den Felsen, wodurch du
dich drängst, zurückläßt, ahnde, und dir mit dem Knüttel den Kopf zerschmetterte, eben
weil du ihn in deiner Krümmung nicht sehen kannst. Glaube mir auf krummen Wegen
ist keine wahre Klugheit."

Der alte und der junge Stier

Ein junger Stier, welcher kaum wenige Tage zuvor in den Pflug gespannt worden,
begegnete einem alten Stier des Nachbarn, und sah ganz traurig zur Erden.
"Was fehlt dir?" Fragte dieser.
"Ach ich Elender!" Versetzte jener. "Gestern spannte mich mein Herr in den Pflug.
Ich zog ihn den ganzen Tag unablässig. Ich arbeitete über meine Kräfte. Und mein Herr
sprach, als er mich ausspannte, nichts, als kaltsinnig die Worte: es ist schon gut.

Heut, als ich auf die Weide ging, schritt ich aus Mattigkeit neben aus in sein Kleefeld,
und zertrat eine Hand voll Futter. Da hättest du ihn sollen fluchen hören!" —
"Du kennst unsere Herrscher noch nicht," sprach der alte Stier, "sonst müßtest du schon
wissen, daß alles, was wir ihnen tun, nur Schuldigkeit, alles andere aber
unverzeihlicher Fehler heiße."

* * *

Bei Gott! Diese Stiere waren nicht die Stiere gemeiner Bauern!

Die Wachtel und der Handwerksmann

Ein Handwerksmann nährte eine gefangene Wachtel vor dem Fenster seiner Schlafkammer.
Wie sie anfing zu schlagen, stand er von seinem Lager auf, sang sein Morgenlied und
ging an seine Arbeit.
Jetzt fiel ihm eine kleine Erbschaft zu, die ihn in gemächlichere Umstände versetzte.
Bald wurde ihm der Schlag seiner Wachtel beschwerlich. Er bedeckte ihren Käfig, daß sie
den anbrechenden Morgen nicht sehen sollte, und fütterte sie mit Murren.
Endlich sagte er zu seinem Weibe: "Sieh, wie der Vogel so rund ist. Auch läßt er sich
sein frühes Schlagen nicht verwehren. Ich habe gehört, daß eine fette Wachtel ein
herrliches Essen sei. Brate sie mir zum Abendbrot."

"Würge mich nur, Grausamer!" sprach die Wachtel, da er sie herausriß. "Meine Rächerin
ist im Anzug. Faulheit rief ihr, Leckerhaftigkeit gibt ihr Flügel. Sie heißt Armut."

Die rechte und die linke Hand

Die rechte Hand erhob sich einst wider die Linke, und gab ihr höhnisch ein Zeichen,
daß sie schreiben sollte.
Die Linke schrieb, aber es war ein unleserliches Gekritzel.
Jetzt bedeutete die linke Hand der Rechten, das Kleid auf der Brust zuzuknöpfen.
Stolz machte sich die Rechte an diese leichte Arbeit, und verrichtete sie mit vieler
Mühe und Zeitverlust.
"Vertragt euch schwesterlich miteinander, meine Lieben! sprach das Haupt. Jede von
euch besitzt die größte Geschicklichkeit darin, wozu sie gebraucht wird. Die Natur schuf
eurer zwei, weil eine nicht alles kann."

Die Stärke des Herkules

Sah die Gondeler in Venedig ein Spiel spielen, daß sie die "Stärke des Herkules" nennen.

Zehn Männer mit breiten Schultern und eisernen Knochen stellten sich zusammen.
Vier andere stiegen ihnen auf die Schultern, diesen drei, dann zwei, endlich einer.
Der letzte hatte einen zarten Knaben mit sich hinauf genommen, oder aus dem nächsten
Fenster zubieten lassen, hielt ihn als den Kopf der lebendigen Spitzsäule in die Höhe,
und der Junge rief: Victoria!

Mußte lächeln des Knaben.

Als aber die Jungen auf der Straße ihren Schulgesellen, den der Mann mit sich
hinauf genommen hatte, rufen hörte, schrieen sie alle mit heller Stimme: Victoria!

Mußte laut lachen.

Die Raupe und der Schmetterling

Ein Schmetterling sah eine Raupe auf einer seltenen Pflanze sitzen, und ohne aufhören
fressen. "Törin!" rief er ihr zu. Wie unüberlegt du handelst! Du wirst die Pflanze
entblättert haben, ehe die Zeit deiner Verwandlung herbeikommt, und dann wirst du
Hungers sterben müssen. Siehst du nicht, daß weit und breit um dich kein Kraut dieser
Art mehr wächst?" — "Tor!" antwortete die Raupe dem Schmetterling. "Du wagst es
nicht, die Blumen zu berühren, die in unzählbarer Menge um dich herum blühen.
Und wenn die Sonne wieder aufgeht, wirst du nicht mehr sein!"

* * *

Habt beide recht. Der Geiz und die Verschwendung sind gleich schlechte Rechenmeister.

Die Waage der Fama

Über einem Heuchler, dessen Freveltaten schwerer in die Schale fielen, als es selbst der
Richter der Toten vermutet hatte, zerbrach die Waage des Rhadamanthus.*

"Die Zahl der Seelen, deren Handlungen noch gewogen werden sollen, ist groß," sagte
dieser zum Merkur. "Bringe mir von der Oberwelt die Waage der Fama, bis mich Zeus mit
einem neuen Werkzeug meines Richteramts wird versehen haben."
Merkur eilte dahin; Kehrte lächelnd mit der Waage wieder; Rhadamanthus wog, und urteilte.
"Bleibt!" rief Merkur den neuverurteilten Seelen zu. "Der Richter hat falsch gesprochen."
"Falsch!" wiederholte Rhadamanthus mit gerunzelter Stirne.
"Ja!" Versetzte Merkur. "Die Waage der Fama ist betrüglich. Untersuche die Schalen."
Rhadamanthus untersuchte, und fand zum Erstaunen, daß die Schale, worin die Fehler
gelegt wurden, weit schwerer war, als die für die guten Eigenschaften bestimmte Schale.
"Götter!" rief er aus. "Und auch diese falsche Waage trägt den Stempel des Jupiters!"
"Ja," versetzte Merkur. Zwar hat sie die Bosheit der Menschen geschmiedet; aber dennoch
genehmigte sie Zeus, um den Klugen gegen jede Nachlässigkeit durch die Betrachtung
zu schützen, daß so viel Pfunde guter Eigenschaften nötig seien, einen einzigen Gran
Fehler aufzuwägen."

Der Richter der Unterwelt bewunderte Jupiters Weisheit, schickte Famen ihr Werkzeug
zurück, und erhielt vom Olymp eine gerechte Wage.

*
Sohn des Jupiter und der Europa. Nach seinem Tode wurde Rhadamanthus wegen seiner
Gerechtigkeit einer der Richter der Unterwelt und lebte in den elysischen Gefilden.


Quelle: Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

Cerberus und der Mops des Fürsten

Cerberus hielt Wache vor der Türe des finstern Hauses, als ein schöner Mops angetrabt kam.
"Woher dicker kleiner Kamerad?" rief ihm jener entgegen. Deinem Wanst nach
warst du der Schoßhund eines Weibes, und hast dich auf der Oberwelt zu Tode gefressen."
"Nicht erraten!" keuchte der neue Ankömmling. Ich war was höheres. Der Liebling, aber
auch der getreueste Diener eines Fürsten."
"Und so fett!" erwiderte jener, indem er seine drei Köpfe zum Zeichen der Verwunderung
schüttelte. "Aber was hast du für einen roten Fleck auf deiner schwarzen Schnauze?"
"Es ist ein Gnadenzeichen," sprach Möpschen. "Wenn der Fürst in der Laune war, so ließ
er mir geschmolzenes Siegellack auf die Nase träufeln, und drückte sein Wappen
darauf. Ich litt es, wie einem treuen Diener geziemt, geduldig. Aber jüngst schlug der
Brand dazu, und schickte mich in die Unterwelt."
"Daß dich der Geier mit deiner Treue!" brüllte Cerberus, daß die höllische Pforte
widerschallte. "Wenn die Lieblinge der Fürsten solche Gnadenzeichen bekommen,
wie müssen sie denn denen mitspielen, welchen sie ungnädig sind?"
"Du hast, scheint es," sagte Mops, "keinen Begriff von Attachment. Ich hatte außerdem
ein vortreffliches Leben, ruhte auf einem samtenen Polster mit Golde, fraß Zucker und
Konfekt aus den Händen meines gnädigsten Herrn, wurde vor allen andern Hunden von
ihm geliebt, und sogar von Hofleuten beneidet."
"Herein!" brummte Cerberus mit Verachtung, weil du ein Mops bist. Aber laß mir die
Hundeseelen kommen, die einst in Menschengestalt dahergingen, und dich beneiden könnten!"

Der Lockvogel

Ein Vogelsteller hatte seinen Herd aufgestellt, und einen Lockvogel dazugesetzt, welcher
sehr schön singen konnte.
Die Vögel hörten den Gesang, flogen herbei, und sprachen untereinander: Was hier ein
Überfluß von Speise liegt, und wie freundlich unser Geselle, dem es so wohl ist,
uns dazu einladet. Wir wollen die Gelegenheit benützen!
Kaum hatten sie zu fressen angefangen, so ließ der Vogelsteller das Garn fallen, und sie
verloren Freiheit und Leben.
Ein Vogel nur hatte sich in der Entfernung gehalten, und der Lockvogel rief ihm zu:
"Wer hat dich allein so klug gemacht, daß du nicht näher kamst?"
"Mein Vater," antwortete der andere, "sagte mir: Sohn! wenn man dir einen großen
Vorteil zeigt, welcher ohne Mühe zu erlangen ist, so hüte dich. Es liegt Betrug im Hinterhalt."

Die Stadtkatze und die Feldkatze

Eine Stadtkatze, welche zum Mäusefang zu träge, und zum Diebstahl zu flink war,
wurde von ihrem Herrn verurteilt, in den Wald getragen, und daselbst verlassen zu werden.
Als sie einige Zeit in dem Gebüsche schüchtern herumgeschlichen war, erblickte sie
eine wilde Katze, und sprach zu ihr: "Sei mir gegrüßt, freier Bürger dieser Wälder;
dessen durchdringender Blick die Erhabenheit einer edlen Seele verkündigt. Ich würde
dich Bruder nennen, da wir von einer Art sind, wenn ich nicht aus dem Lande der
Sklaven käme, wo das Katzengeschlecht in Tellerlecker und Dümmlinge ausgeartet ist,
von der Gnade des Manntiers lebt, und sich kaum erkühnt, ein Mädchen in die Finger zu
beißen. Die Elenden! Ja, sie verdienen durch ihre Feigheit die Rute, womit man sie
züchtigt, und das Halsband, womit man sie fesselt. Doch du wirst mich deiner
Freundschaft würdigen, du wirst mich mit auf die Jagd nehmen, mich, der ich, meiner
höheren Bestimmung eingedenk, das beschämende Joch abschüttelte, den kriechenden
Katzengesichtern der Stadt und ihren Despoten Hohn sprach, und sie, die mich
verkannten, weil sie meiner nicht wert waren, mit Verachtung verließ!"

Die wilde Katze ging weiter, ohne ein Wort zu sagen, und die Stadtkatze rief ihr nach:
"Warum fliehst du mich, Bruder? Ich muß dir noch viel erzählen."
"Deine Klagen über die Stadt habe ich gehört, antwortete die Feldkatze. Nun will ich auch
hören, was man in der Stadt über dich zu klagen hat. Es ist unglaublich, daß ein
Aufenthalt, wie du ihn schilderst, einen Geist von deiner Größe sollte hergebracht oder
ohne Ursache von sich gelassen haben."

* * *

Albernheit verrät, wer gegen die Vorzüge des Auslands blind ist: Bosheit und heimliche
Rache, wer seinem Vaterland Hohn spricht.

Der kranke Bauer und sein Vetter

Ein reicher Bauer, welcher keine nahen Anverwandten hatte, lag auf dem Krankenbette,
und wurde fleißig von einem Fleischer aus der Stadt besucht, der sich für seinen Vetter ausgab.
Einst drang der Hund des Kranken in die Stube; Ein großer wolfsgestriemter Hund.
Der Fleischer streichelte denselben und sprach zum Kranken: "Ha, Vetter! was ihr hier für
einen schönen Hund habt! Eine herrliche Satteldecke würde sein Balg geben!"
"Packe dich von mir!" ächzte der Kranke. Nun weiß ich, warum du mich streichelst.

Der neue König der Tiere

Der alte König der vierfüßigen Tiere, der Löwe, war gestorben. Die Untertanen hatten viel
unter der Regierung des Fressers erlitten, darum wählten sie an seine Stelle den
weidenden Hirsch. Aber der Hirsch nahm zu seinem Vertrauten den Wolf.

Einst trat der neue König aus dem Wald um sich an dem freudigen Zuruf der Liebe seiner
Untertanen zu ergötze, und erstaunte, als eine ganze Herde Schafe bei seinem Anblick
die Flucht ergriff.
"Was flieht ihr mich, ihr Undankbaren!" rief ihnen der Hirsch nach: mich, der keinen
Tropfen eures Blutes vergossen hat, noch je vergießen wird."
"Was ein Fürst zuläßt," blökte eines von den Fliehenden zurück, tut er selbst."

Der Marder und der Bauer

Ein Marder hatte sich in den Taubenschlag eines Bauern geschlichen, und war auf dem
Rückweg begriffen, als ihm der Eigentümer des Hauses auf der Treppe begegnete.
Der Bauer wußte noch nicht, daß ihm seine Tauben gefressen worden, und würde den
Täter nicht einmal gesehen haben, wenn nicht dieser, welcher sich für entdeckt hielte,
ihn angeredet hätte.
"Guten Morgen!" sagte der Marder. "Seid ihr schon so früh aufgestanden? Ich habe zwar
auch wenig geschlafen, ungeachtet ich kein solcher Marder bin, der bei Nacht Leuten die
Tauben frißt."
"Ha, ha, guter Freund!" antwortete der Bauer. "Bist du da? Holla Jungen! Prügel her!
Schlagt den Taubenfresser tot!"
Die Jungen kamen, und der edle Marder mußte seine unverlangte Entschuldigung mit
dem Leben bezahlen.

* * *

Wie könnte es einem ehrlichen Mann einfallen, sich seiner Ehrlichkeit zu rühmen?

Der Erbprinz, sein Vertrauter und sein Fohlen

Einem Erbprinzen hatte sein Vater ein Fohlen geschenkt, mit welchem er sich manche
Stunde vergnügte.
Einst als der Prinz es auf dem Hofplatz herumjagte, bald mit Zucker herbeilockte; bald
das Tierchen den Prinzen, bald der Prinz das Tier verfolgte; bald er ihm einen leichten
Peitschenhieb versetzte, bald das Fohlen, sich rächend, nach ihm ausschlug, sagte der
Vertraute des Prinzen, der dabei stand. "Ha! wie er dich dafür reiten wird, wenn du
erwachsen bist!"
"Ha!" wieherte das Füllen dem Vertrauten zurück. "Wie er dich für die Gnade seiner
jetzigen Vertraulichkeit hassen wird, wenn er zur Regierung kommt!"

Der Wolf, der Tiger und der Fuchs

Ein Wolf war in eine Grube gefallen, und heulte jämmerlich.
Auf sein Geheul kam ein Tiger und ein Fuchs an die Grube.
"So geht's den Räubern!" rief der Tiger hinab. "Die unschuldigen Schafe, die du
zerrissest, haben dir diese Strafe zugezogen. Sie folgt dem Verbrecher auf dem Fuße."
"Gewiß," grinste der Fuchs, "und das letzte Lamm, das er stahl, war sogar dem Pan zum
Opfer geweiht! O die Götter sind gerecht!" -
"Hebet euch von hinnen!" schrie der Wolf, "Elende! Wohl sind sie gerecht; Aber daß ihr
sie predigt, ist Lästerung der Götter. Wer andere richten will, muß selbst rein sein."

Der Salamander und die Eidechse

Eine Eidechse begegnete einem Salamander, dessen halbe Haut verbrannt war, und
welcher seine letzten Kräfte anstrengte, davon zu laufen.
"Was ist dir widerfahren, Herr Stiefbruder?" rief sie dem Salamander nach, "daß du so
ängstlich fliehest, und so jämmerlich zugerichtet bist."

"Ah!" seufzte dieser. "Ich bin in die Hände eines der Manntiere geraten, welche sich
Naturforscher nennen, und mit kaltem Blut alle erdenkliche Grausamkeiten gegen andere
Tiere erlauben. Diese Bestie hat mich ins Feuer geworfen, weil ein alter Geck von mir
geschrieben haben soll, daß ich im Feuer leben könnte. Ich wollte, daß dieser und jener
ertrunken wären, ehe sie meinen Namen hätten nennen hören!"
"Hem!" zischte die Eidechse. "So kann man auch seinem Freunde schädlich werden,
wenn man mehr von ihm verspricht, als er zu leisten vermag."

Das Licht und die Lichtschere

Das brennende Licht sah herab auf die Lichtschere, und fragte: "Wer bist du?"
Die Lichtschere antwortete stolz: "Ich bin ein Ding, welches dich heller machen, oder
auslöschen kann."
Das Licht versetzte: "Kannst du auch selbst leuchten?"

* * *

Könnte nicht mancher Schriftsteller seinem ungenannten hämischen Rezensenten die
nämliche Frage machen?

Die Henne und ihre Kollegen

Eine Henne scharrte auf einem lockeren Boden, und fand einen Haufen Weizenkörner.
Sie lockte freudig den Hahn, und die anderen Hennen herbei, welche die Körner rein auffraßen.
Eben diese Henne scharrte wieder, und fand nichts.
Da eilte der Hahn mit den anderen Hennen herzu, und sprach zornig: "Du hast die
gefundenen Körner allein aufgefressen."
Und alle Hühner schrieen ihm nach: "Sie hat sie allein aufgefressen!" und pickten sie tot
mit ihren Schnäbeln.

* * *

Das arme Huhn starb den Märtyrertod eines redlichen Kameralisten.

Der träumende Haushund

In der Kinderstube eines adeligen Hauses lag ein Hund unter dem Ofen, wo er ganze
Tage zu schlafen gewohnt war, und schnarchte. Auf einmal fing er an zu zucken, und zu
murren.
Eine Katze, die neben ihm saß, strich ihm mit der Pfote über die Nase, und sprach zu
dem Erwachenden: "Danke mir, dass ich dich weckte. Du hast sehr unruhig geschlafen."
Ich wollte, daß dir die Pfote lahm würde!" Brummte der Hund ihr entgegen. "Ich hatte den
angenehmsten Traum von der Welt. Mir träumte, daß ich ein starkes wildes Schwein
hetzte. Ha! Was dies für eine Freude war!"
"Hum!" antwortete die Katze, indem sie langsam davonschlich. "Es ist leicht, im Traum
zu hetzen. Man bekommt keine müden Beine."

* * *

Als die Tiere dieses redeten, schlug der Hofmeister in der Ecke des Zimmers ein Buch zu,
und sagte seufzend: "Ach! wie leicht ist's, in Büchern Kinder zu erziehen!"

* * *

Der Wanderer

Zwei Wanderer kamen in ein enges Tal, welches von hohen Felsen zu beiden Seiten
begrenzt wurde, die aber jetzt keinen Schatten warfen: denn es war um die
Mittagsstunde eines schwülen Sommertags.
Ungefähr erblickten sie ein überhängendes Felsstück, welches eine Grotte bildete,
in welcher kühl zu sitzen war.
"Hier wollen wir Mittag halten," sagte der eine zu dem anderen. Dieser aber antwortete:
"Freund, das Tal währt nicht lang, und am Ende desselben liegt ein wirtschaftliches Dorf,
wo wir ruhen können. Lasset uns vollends die liebe Sonne ertragen, und unseren Weg
fortsetzen."
Der andere wollte nicht, sondern setzte sich in die Grotte, und lachte laut seines
Gefährten, welcher in der Mitte des Tals hinwandelte, und sich oft den Schweiß
abzutrocknen genötigt wurde.
Bald hatte dieser den Ausgang des Tals erreicht, als er zurücksah, ob der andere nicht
nachkäme. Und siehe, der Überhang des Felsen war nicht mehr zu finden. Er war
eingestürzt, und hatte den sich keines Unglücks besorgenden Wanderer unter seinen
Trümmern zerschmettert, und begraben.

* * *

Es ist sehr bequem unter dem Schatten großer Gönner und Anverwandten die Laufbahn
dieses Lebens zu wallen; und die Sonne brennt denjenigen hart auf den Nacken, dem sie
mangeln. Aber oft stürzen diese erhabenen Felsen, und erdrücken alle, die sich unter
ihrem Abhang befinden. Der gute Himmel hingegen fällt niemals ein.

Der getürmte Elefant und das Kamel

Einer von den Streit-Elefanten des großen Pyrrus ging einst mit seinem Turm belastet
neben einem Kamel, und seufzte so tief, daß dieses bewogen wurde, ihn um die
Ursache seiner Traurigkeit zu befragen.
"Warum sollte ich nicht seufzen!" antwortete der Elefant. "Siehst du nicht die ungeheure
Bürde, womit Menschen meinen Rücken beschwert haben? Und den Zwang des Führers,
der auf meinem Nacken sitzt, und mich, nicht wohin ich, sondern wohin er will, gehen macht?"
"Du hast deiner angeborenen Stärke vergessen," versetzte das Kamel. "Wie wenn du den
Turm, der dich drückt, dort an jener Eiche zerschmetterst, und den Wurm, der jetzt dein
Führer heißt, samt den Würmern im Kasten, in den Kot trätest?"
Der Elefant schien sich zu bedenken. Die Sonne brach durch die Wolken hervor. Er sah
seinen eigenen Schatten: "Es ist doch eine Pracht," sprach er, "ein solches Gebäude zu
tragen! Und siehe dort das Heer der Römer. Sie staunen, sie beben, die Helden, vor
meinem fürchterlichen Anblick! Noch diese Schlacht will ich gewinnen helfen, und dann
deinen Rat – überlegen."

* * *

Warum werden große Ehrenstellen so drückend beschrieben, und so selten freiwillig
niedergelegt?

Der Bauer und die Dohle

Ein Bauer hörte, daß einer in dem Neste einer Dohle einen Edelstein gefunden habe.
Er haschte also eine Dohle, und brachte sie unter sein Dach. Wenn sie zahm ist, sprach
er bei sich selbst, will ich sie ausfliegen lassen, und sie wird selten wiederkehren, ohne
mir einen Schatz mitzubringen. Aber einst sah der Vogel eine noch halb glühende Kohle,
trug sie in das Nest, und Haus und Scheuer seines Wohltäters mit aller Habe wurden
ein Raub der verzehrenden Flammen.

* * *

So freiet der Geizige nach einem reichen Weibe, und wird durch sie zum Bettler.

Alcibiades und der verstümmelte Faun

Als Alcibiades einst bei seinen Nachtschwärmereien an den schlechten Bildsäulen seiner
Vaterstadt Mutwillen ausübte, fiel ihm der hölzerne Arm eines Fauns, den er abschlug,
auf die Nase, daß er blutete.
"Ha!" lachte eine Stimme aus dem verstümmelten Faun, "was du für ein Weichling bist!
Du blutest, und ich fühle den Verlust meines Armes nicht." – "Du wirst dir doch," sprach
Alcibiades, "deinen Stoff nicht zum Verdienst rechnen wollen?"

* * *
Natürliche Unempfindlichkeit ist weder Philosophie, noch Tugend.

Alcibiades, war ein ausgezeichneter griechischer Feldherr um das Jahr 420 v. Chr.

Chiron

Chiron nahm den jungen Achill, den er in der Arzneikunst unterrichtet hatte, einst mit zu
einem Krankenbesuch.
Sie kamen zu einem Schwindsüchtigen, dessen bekümmerte Frau den Chiron hatte rufen lassen.
Der Kranke sprach mit schwacher Stimme, als er den Arzt erblickte: "Ich weiß nicht,
warum man dich schon wieder hierher bemühte, da ich mich so wohl befinde. Ich habe
zwar einen leichten Katarr. Aber ich esse, trinke, schlafe gut, und meine Kräfte sind
die nämlichen. Wenn sich nur die gute Witterung bald einstellte, so würde ich auf das
Land gehen."
Chiron fühlte den Puls, verordnete, und ging zu einem Hypochondristen, welcher vor der
Morgenröte schon seinen Sklaven zu ihm geschickt, und sich seinen ersten Besuch
ausgebeten hatte.
Den Angstschweiß auf der Stirne lag er im Bette, und sprach zum Arzt: "Ach! daß du
mich so lange hilflos schmachten ließest! Ich glaubte, dich nicht mehr zu sehen.
Ich fühle den nahen Tod in allen Adern. — — Ach!"
Er konnte nicht weiter sprechen. Chiron fühlte auch diesem den Puls, verordnete,
und ging weiter.
"Welcher von beiden dünkt dich," sprach er den Achill auf dem Wege, "der gefährlichste zu sein?"
Achill: "Ohne Vergleichung der Letzte." – "Du irrst dich," sagte Chiron.
"Die verzweifelsten Kranken jeder Gattung sind diejenigen, welche sich und andere
überreden wollen, daß sie gesund seien."

Die Strafgerechtigkeit

Einst hatten die Räubereien der Vögel sehr überhand genommen, und es kam Klage für den Zeus.
Jupiter ließ den Adler durch seinen Boten befehlen, dem Unwesen zu steuern.
Sogleich befahl der Adler, daß man dem Kolibri einige Schwungfedern ausrupfen sollte,
damit dieser Vogel nicht mehr so weit streifen könnte.
Merkur stellte fest, daß dieses der kleinste, der unschädlichste unter allen Vögeln sei.
Es half aber nichts. Der Adler antwortete: "Man muß an den Kleinen Exempel statuieren,
damit sich die Großen daran spiegeln mögen."
Der Bote kam zurück, erzählte mit Unwillen, was er ausgerichtet hätte, und Jupiter fing
an, aus vollem Halse zu lachen.
"Nun möchte ich doch wissen," sagte Merkur, was daran lachenswürdig wäre!"
"Ich vergaß mich, sprach Zeus," und zog sein Gesicht wieder in die Falten des hohen
Ernstes. "Aber, es fiel mir ein, daß ich es, als ich noch König in Kreta war, gerade wie
der Adler gemacht hatte."