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Die orientalische Fabel

Den Forschungen der vergleichenden Literaturwissenschaft zufolge, scheint die Fabel
und Parabel der alten Inder noch vor ihrer griechischen Schwester, der Äsopischen
Fabel, entstanden zu sein.
Gegen Ende des 19.Jahrhunderts hat der dänischen Forscher Viggo Fausböll aus einem
uralten, auf 806 Palmblättern aufgezeichneten Pali-Manuskript das Jâtaka-Buch
abgeschrieben und herausgegeben. Die Überraschung war groß, als er feststellte, dass
er die Urquelle für die meisten Fabeln und Parabeln, Legenden, Märchen und Anekdoten,
die sich überall in der Literatur aller Völker des Orients und des Okzidents finden,
entdeckt hatte.

Das Jâtaka-Buch ist eine Sammlung buddhistischer Legenden von den Vorgeburten
Buddhas. Diese Erzählungen sollen seine Schüler auswendig gelernt haben und nach
dem Tod des Lehrers gesammelt haben. Die Sammlung wurde "Buch der 550 Jâtakas oder
Wiedergeburten" genannt. Der Überlieferung nach ist es etwa im Jahre 250 vor Chr.
verfasst worden.
Es kann somit behauptet werden dass das Jâtaka-Buch die älteste, vollständigste,
und wichtigste Sammlung von Volksliteratur ist, die wir besitzen.

Aus dem Jâtaka-Buch haben auch alle jene Fabeln und Märchen, die in dem
altindischen Pantschatantra enthalten sind, ihren Ausgang genommen. Dieses trägt im
großen und ganzen den Charakter eines "Fürstenspiegels," das heißt eines Lehrbuches
der Regierungskunst welche für Regierende – Könige und Minister – von Bedeutung sind.

Auf dem Pantschatantra beruht ein anderes indisches Fabelwerk, der Hitopadesa
(d.h. freundlicher Rat), der sich in den Hauptteilen an das Grundwerk hält, jedoch auch
zahlreiche neue Erzählungen enthält. Der charakterische Unterschied beider Werke
besteht darin, dass im Pantschatantra mehr das erzählende, im Hitopadesa mehr das
sententiöse od. sprichwörtliche Element vorherrscht.

Die Fabeln des Arabers Lokmân erinnern überhaupt nicht mehr an ihr orientalisches
Geburtsland, sondern stehen selbst hinter den äsopischen an Schmucklosigkeit zurück.
Auch in den jüngeren Parabeln des Persers Saadi findet sich kein schmückendes Beiwerk.