1. 
					Der König Demetrius und der Dichter Meander 
					 
					
					
					Demetrius, mit seinem Beinamen Phalereus, 
					Bezwang Athen durch unrechtmäßige Gewalt. 
					Das Volk, wie's seine Weise ist, stürzt allsogleich 
					Zu ihm und ruft: »Oh, Heil dir Herrscher!« Auch der Adel 
					Küßt gierig jene Hand, die sie in Fesseln legte, 
					Geheim doch klagten sie ob ihres schweren Unglücks. 
					Selbst Einsiedler und jene, die der Muße lebten, 
					Sie schlichen als die letzten hin zum Gnadenkuß. 
					Und auch Menander, der berühmte Lustspieldichter, 
					Befand sich unter ihnen. Ohne ihn zu kennen, 
					Hatt' auch Demetrius die Werke all' gelesen 
					Und hatte oft bewundert das Talent des Mannes. 
					Von Salbe duftend und mit schleppenden Gewändern 
					Kam er geziert, mit langsam abgemessnem Schritt. 
					Als in der König in den letzten Reihn erblickte, 
					Sprach er: »Wer mag denn jener Weichling dort wohl sein, 
					Der so sich mir zu zeigen wagt?« Die Nächsten sagten: 
					»Das ist Meander.« Plötzlich andern Sinns geworden, 
					Erklärte er: »Es kann der Mensch nicht schöner werden.« 
					 
					
					
					2. 
					[Die Wanderer und 
					der Räuber] 
					 
					
					
					Als zwei Soldaten einst auf einen Räuber stießen, 
					Floh einer feig, der zweite doch hielt mutig stand, 
					Und es gelang ihm, seinen Gegner zu erlegen. 
					Da nun der Räuber tot war, kam der feige Freund 
					Und zückte auch das Schwert und warf zurück den Mantel. 
					»Ha, laß mich«, rief er aus, »der Bube soll empfinden, 
					Mit was für Leuten er's zu tun.« Drauf sagte jener, 
					Der diesen Kampf entschieden hatt': »Ich hätt' gewünscht, 
					Daß du mit solchen Worten nur geholfen hättst; 
					Denn wenn ich sie für wahr gehalten, würde ich 
					Noch mutiger gewesen sein. Jetzt steck dein Schwert 
					Nur ein und lasse auch die Prahlerzunge ruhen, 
					Damit du beides sparst, um andere zu täuschen. 
					Ich, der ich hab gesehn, mit welcher Eil' du flohst, 
					Ich weiß, daß deinem Mute nicht zu trauen ist.« 
					 
					In dieser Fabel möge jener sich erkennen, 
					Der tapfer ist im Glück, feig aber in Gefahr. 
					 
					
					
					3. 
					Der Kahlkopf und die 
					Mücke 
					 
					
					
					Es stach einst eine Mücke eines Kahlkopfs Haupt; 
					Er schlug nach ihr, gab aber selbst sich eine Schelle. 
					Drauf sprach die Mück': »Für eines Tieres leichten Stich 
					Wollst du dich grausam rächen; doch was tust du dir, 
					Der du der Unbill auch noch Schande zugefügt?« 
					Er sagte: »Nun, mit mir werd ich mich leicht versöhnen, 
					Da ich die Absicht nicht gehabt, mich zu verletzen. 
					Doch dich, Insektenbrut, dich allzu böses Tier, 
					Das du dich dran ergötzt, das Menschenblut zu saugen, 
					Wünsch ich zu töten, selbst bei einem größern Schaden.« 
					 
					Die Fabel lehret, daß du dem verzeihen mußt, 
					Der ohne Wissen fehlt. Doch wer mit Absicht schadet, 
					Verdient mit vollem Fug und Recht die größte Strafe. 
					 
					
					
					4. 
					Der Esel und die Ferkel 
					 
					
					
					Als jemand einst dem Herakles ein Schwein geopfert, 
					Dem er für Glück und Wohlergehen dies gelobt, 
					Befahl er, daß die Gerste, die noch übrig war, 
					Dem Esel sollt' gegeben werden. Dieser aber, 
					Das Korn verachtend, sprach: »Ich würd' gewiß sehr gern 
					Die leckre Speis' genießen, wenn ich nicht das Tier, 
					Das diese Gerst' genährt, geschlachtet dort erblickte.« 
					 
					Durch die in dieser Mär erhaltne Lehr' erschreckt, 
					Hab ich für stets gefährlichen Gewinn vermieden. 
					Zwar heißt ein allgemeiner Spruch: »Wer nimmt, der hat.« 
					Doch wenn wir zählen, die ertappt zugrunde gingen, 
					Du fändst den großen Haufen der bestraften Diebe. 
					Gewinn erzielten wenige, doch Unglück viele. 
					 
					
					
					5. 
					Der Bauer als 
					Kunstrichter 
					 
					
					
					Parteilichkeit läßt allzuoft die Menschen straucheln, 
					Doch wenn das falsche Urteil noch verteidigt wird, 
					So wird die spätre Einsicht sie's bereuen lassen. 
					 
					Ein reicher Mann wollt' seine Feste glänzend machen 
					Und lud die Künstler ein, daß sie die neusten Sachen 
					Um eine Prämie, die festgestzet, zeigten. 
					Von nah und ferne kamen Künstler zu dem Wettkampf, 
					Und unter ihnen einer, der gar wohlbekannt. 
					Er prahlte sehr, daß er ein neues Schauspiel hätte, 
					Das auf der Bühne noch zu keiner Zeit erschienen. 
					Die Bürgerschaft war ganz vor Freude außer sich, 
					Und augenblicklich waren alle Plätze voll, 
					Die kurz vorher noch leer war. Als er nun auf der Bühne 
					Stand, aber ganz allein und ohne andre Spieler, 
					Erregte schon Erwartung allgemeine Stille. 
					Da plötzlich steckt' er in sein weit Gewand das Haupt 
					Und ahmte so getreu des Schweines Grunzen nach, 
					Daß alle wähnten, in dem Mantel sei ein Schwein, 
					Und ihm sofort befahlen, diesen auszuschütteln. 
					Es fand sich nichts; mit großem Lobe ward der Mann 
					Jetzt überhäuft und lautes Klatschen folgte ihm. 
					
					
					Dies sah ein Bauersmann und rief: »Beim Herkules, 
					Mich wird er nicht besiegen!«, und erklärte gleich, 
					Daß er's am nächsten Tag noch besser machen wolle. 
					Es mehrt' sich das Gedränge. Und Parteiengeist 
					Macht alle blind. So saß das Volk erwartend da, 
					Doch nicht des Schauspiels wegen, nein, nur um zu lachen. 
					Das Paar erscheint, der Possenreißer grunzt zuerst, 
					Und er erregt ein großes Lob und lauten Jubel. 
					Drauf stellt sich der Bauer, als ob er in den Kleidern 
					Ein Ferkel hätt' versteckt (er hatte wirklich eins, 
					Doch blieb's verborgen, weil beim ersten nichts gefunden). 
					Er zwicket nun das Schwein, das er verbarg, am Ohr, 
					Und so erpresset er die Stimme der Natur. 
					Das Volk jedoch erklärte, daß der Possenreißer 
					Die Stimme besser nachgeahmt, und zwang den Bauern, 
					Die Bühne zu verlassen. Dieser nahm das Schwein 
					Aus dem Gewand, und ihren Irrtum so beweisend, 
					Sprach er: »Dies zeige euch, was ihr für Richter seid.« 
					 
					
					
					6. 
					Zwei Kahlköpfe 
					 
					
					
					An einem Kreuzweg fand ein Kahlkopf einen Kamm. 
					Es kam ein zweiter, dem die Haare gleichfalls fehlten, 
					Und dieser rief: »Halbpart, was für Gewinn es sein mag.« 
					Der erste zeigte ihm den Fund und fügte bei: 
					»Die Götter sind uns günstig, doch das böse Schicksal 
					Ließ uns statt eines Schatzes eine Kohle finden.« 
					 
					Wer in der Hoffnung sich betrügt, beklagt sich tief. 
					 
					
					
					7. 
					Der dreiste 
					Flötenspieler 
					 
					
					
					Sobald der Geist durch Volkesgunst geblendet ist 
					Und er in eitlem Dünkel seiner Kraft vertraut, 
					Wird leicht sein Flattersinn zur Schande hingeführt. 
					 
					Der Flötenspieler Fürst war wenig nur bekannt, 
					Da er des Bathylls Schauspiel zu begleiten pflegte. 
					Als einst bei einem Spiel, ich weiß nicht mehr, bei welchem, 
					Sich die Maschine hob, tat er ein'n schweren Fall 
					Ganz unversehens und brach sein linkes Schienbeinrohr. 
					— Wie gern hätt' er verlorn die die rechte Flötenröhre. — 
					Auf Händen ruhend und vor Schmerzen heftig seufzend 
					Ward er nach Haus getragen. Es verstreichen Monde, 
					Bis er mit Gottes und mit Arztes Hilf' genas. 
					Wie es die Sitt' des schaulustigen Volkes ist, 
					Begann man sich nach ihm zu sehnen, dessen Flöte 
					Des Tänzers leichte Tritte zu beleben pflegte. 
					 
					
					
					Ein Reicher wollte frohe Festesspiele geben — 
					Bereits vermochte Fürst zu gehen, — und bat er diesen, 
					An dem bestimmten Tag für Geld und gute Worte 
					Sich sehn zu lassen. Fürst ging auf den Vorschlag ein. 
					Als dieser nun erschien, ward nur von ihm gesprochen, 
					Die einen meinten, er sei tot, und andre sagten, 
					Daß er gar bald sich ihnen zeigen würde. 
					Der Vorhang schwand; der Donner grollte dumpf und schwer, 
					Und Götter redeten nach hergebrachter Weise. 
					Drauf sang der Chor ein Lied, wie's Fürst noch nicht gehört. 
					Der Sinn von diesem Liede war: »Es lebe dein Fürst, Rom, 
					Freue dich, du bist gerettet, freue dich! « 
					Man steht zum Beifallklatschen auf — und Fürst wirft 
					Kußhand, 
					
					
					Er glaubt, daß ihm der Beifall und der Jubel gilt. 
					Der Ritterstand bemerkt den Irrtum dieses Toren, 
					Und lachend fordert er des Liedes Wiederholung. 
					Es wird aufs neue vorgetragen. Unser Männlein 
					Wirft sich der Länge nach jetzt auf die Bühne hin. 
					Die Ritter applaudierten ihm mit bittern Scherzen, 
					Das Volk glaubt, daß er sich um einen Kranz bewerbe; 
					Doch als die Zuschauer den Tatbestand erfahren, 
					Wird Fürst trotz seiner glänzendweißen Schienbeinbinde 
					Und trotz des weißen Mantels und der weißen Schuhe, 
					Sich brüstend mit der Ehr', die nur dem Kaiser galt, 
					Vom ganzen Volk aus dem Theater schnell entfernt. 
					 
					
					
					8. 
					
					
					Die Zeit 
					 
					
					
					Als eine schnellen Flugs auf einem Schermesser 
					Sich wiegende Gestalt, belockt die Stirn, sonst kahl — 
					Ergreifst du sie, so halt sie fest; einmal entschwunden, 
					Vermag selbst Jupiter sie nicht zurückzuholen — 
					Gibt dir die Zeit Gelegenheit zum schnellen Handeln. 
					 
					Daß unbenutzte Zeit nicht die Erfolge hindre, 
					Hat sich das Altertum die Zeit so dargestellt. 
					 
					
					
					9. 
					Der Stier und das Kalb 
					 
					
					
					Beim engen Eingang krümmte sich ein Stier mit Hörnern, 
					Und kaum gelang es ihm, in seinen Stall zu kommen. 
					Da zeigte ihm ein Kalb, wie er sich beugen müßte, 
					»Schweig,« rief der Stier, »ich wußt' es, eh' du warst 
					geboren.« 
					 
					Wer gerne Ältere belehrt, mög' sich dies merken. 
					 
					
					
					10. 
					Der Hund, [der Diener] und der 
					Jäger 
					 
					
					
					Ein Hund hatt' schon geraume Zeit hindurch dem Herren 
					Den größten Mut bewiesen gegen alle Tiere, 
					Doch jetzt, schon alt und schwach, begann er zu ermatten. 
					Einst sucht er, zum Kampf gehetzt, des Ebers Ohr 
					Zu packen, doch zu schwach war schon der Biß des Hundes. 
					Die Beut' entkam. Ergrimmt schalt nun der Herr den Hund. 
					Doch dieser sagte ihm: »Nicht fehlet dir mein Mut, 
					Jedoch die Körperkraft. Lob, was ich einstens war, 
					Wenn's dir gefällt zu tadeln, was ich jetzo bin.« 
					 
					Philet, warum ich dies geschrieben, wirst du wissen. 
					 
					 
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