Fabelverzeichnis
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Ulrich von Winterstetten

Urkundlich belegt ist Ulrich zwischen 1241 und 1280.
Ab 1258 erscheint er als Angehöriger des geistlichen Stands,
zunächst als Kanonikus, später als Kirchherr zu Biberach und Domherr zu Augsburg.

Er gilt als einer der herausragenden Vertreter des >Geblümten Stils<.



 
Verholniu minne sanfte tuot
 
Heimliche Liebe ist süß
 
1.
»Verholniu minne sanfte tuot«,
- sô sanc ein wahter an der zinne -
»doch sol sich liep von liebe scheiden.
dar nâch sô wende er sînen muot,
ist ieman tougenlîche hinne;
deswâr sô tuot er wol in beiden.
er sol sorgen wier von hinnen kêre:
est an dem morgen. volge er mîner lêre,
sî daz ich in warnen sol;
sô tuot er wol und sint sîn êre.«

2.
Der frouwen dienerinne kluoc
erhôrte dâ des wahters singen.
dâ von erschrac diu vil getriuwe.
diu maer si hin zer frouwen truoc.
si sprach 'wol ûf und lât iu lingen:
der tac ist komen.' dâ huop sich riuwe.
»est ân sünde« sprach diu tugenderîche,
»der in sô fünde ligen minneclîche:
erst entslâfen, nû sich hie!
in weiz niht wie er hin entwîche.«

3.
Die rede erhôrt der werde gast
dâ er lac bî der minneclîchen
bî liebes brust an blanken armen;
dâ von im slâfes dô gebrast.
er sprach »sol ich von hinnen strîchen,
owê daz müeze got erbarmen.«
beider sinne wurden dâ versêret,
(daz schouf rou Minne) fröide gar verkêret.
dâ schiet leit der wunnen spil.
der trehene vil wart dâ gerêret

 
1.
»Heimliche Liebe ist süß«,
sang ein Wächter auf der Zinne,
«doch muß sich der Geliebte nun von seiner Liebsten trennen.
Wenn jemand heimlich hier ist,
so richte er sich danach,
dann tut er für beide gewiß das Richtige.
Er muß sich darum kümmern, wie er von hier fortkommt.
Es ist Morgen. Er möge meinem Rat folgen,
da ich die Aufgabe habe, ihn zu warnen.
Dann handelt er richtig und bewahrt sein Ansehen.«

2.
Die kluge Dienerin der Dame
hörte den Gesang des Wächters.
Darüber erschrak die zuverlässliche Frau.
sie berichtete ihrer Herrin davon und sagte:
'Steht auf und beeilt euch: Der Tag ist angebrochen.'
Da machte sich traurige Niedergeschlagenheit breit.
»Es ist keine Sünde«, sagte die edle Frau,
wenn ihn jemand so liebenswert hier liegen fände.
Er ist eingeschlafen, sieh doch hier.
Ich weiß nicht, wie er von hier fortkommen soll.«

3.
Diese Worte hörte der edle Ritter,
als er an der Brust seiner zärtlichen Geliebten lag,
in ihren weißen Armen.
Deshalb konnte er nicht länger schlafen.
Er sagte: »Muß ich von hier fort,
ach, das möge Gott erbarmen.«
Beide wurden von Schmerz überwältigt
(dies bewirkte Frau Minne) und ihr Glück völlig
in sein Gegenteil verkehrt. Der Schmerz beendete ihr Liebesspiel.
Viele Tränen wurden dort vergossen.

 
Quelle:
©Reclam 2003/Tagelieder des deutschen Mittelalters/Ausgewählt und übersetzt von ©Martina Backes

 
Ist iht mêre schoenes
 
Gibt es denn sonst nichts Schönes
 
1.
»Ist iht mêre schoenes«,
sprach ein altez wîp,
»dann des der schenke singet?
dâst ein wunder grôz.
wê mir dis gedoenes
daz mir durch den lîp
und durch diu ôren dringet:
des mich ie verdrôz.
wan si gelfent sînen sanc tac unde naht
in dirre gazzen,
unde ist er doch hübschen sange niht geslaht:
man sol in hazzen.«
daz erhôrte ich sâ:
>alter hiute wagen, des bist du sô grâ!<

2.
»Hoerâ«, sprach diu junge,
»wes bist im gehaz?
durch got mich des bescheide,
liebez müeterlîn.
ober iht guotes sunge,
wen beswaeret daz?
jâ tuot er nieman leide:
er muoz froelich sîn.«
»dâ wolt er dich vernent mir genomen hân
an mînem bette.
kumt der übel tiuvel her, ich wil dich lân,
ê deich dich rette.«
daz erhôrte ich sâ:
>alter hiute wagen, des bist du sô grâ!<

3.
»liebiu muoter schoene«,
sprach daz megetîn,
»du solt dich baz bedenken,
erst unschuldic dran.
niht sô rehte hoene,
liebe, lâz ez sîn.
du zürnest an den schenken
der dâ singen kan.
ûf mîn triuwe, ez was im ûz der mâze leit:
ez tet sîn bruoder.«
diu alte sprach: »ir keiner hât bescheidenheit,
und waere ein fuoder.«
daz erhôrte ich sâ:
>alter hiute wagen, des bist du sô grâ!<

4.
»Du gestant den liuten
umbe ir tôrheit bî«,
sô sprach der megde muoter,
»du bist missevarn.
waz sol ez betiuten?
du bist alze frî.
du minnest niemen guoter,
vil unsaelic barn,
waenest, dir der schenke gebe sînen sanc
den er dâ singet?
du bist niht diu schoenste diu in ie betwanc
ald noch betwinget.«
daz erhôrte ich sâ:
>alter hiute wagen, des bist du sô grâ!<

5.
Sî begunde singen
hovelich ein liet
ûz rôsenrôtem munde,
diu vil stolze maget.
sî lie suoze erklingen,
daz von sorgen schiet,
ein liet daz sî wol kunde:
sî was unverzaget.
»owê«, sprach diu muoter, »wes hast du gedâht?
du wilt von hinnen.
schenken lieder hânt dich ûz den sinnen brâht:
du wilt entrinnen.«
sî sprach: »muoter, jâ!
ich wil in die erne oder anderswâ!«

 
1.
»Gibt es denn sonst nichts Schönes«,
sprach ein altes Weib,
»als was der Schenke singet?
Ist ein Wunder groß!
Weh mir des Getönes,
das mir durch den Leib
und durch die Ohren dringet
und mich stets verdroß.
Seine Lieder schreien sie ja bei Tag und Nacht
in allen Gassen,
und ist doch sein Sang so roh und ungeschlacht!
Man muß ihn hassen.«
Ich verstand genau:
>Darum, altes Bockfell, bist du mir so grau!<

2.
»Höre!« sprach die Junge,
»Wozu denn dein Haß?
Um Gott mich des bescheide,
bestes Mütterlein!
Ist ihm plump die Zunge,
wen beschwerte das?
Tut niemand was zuleide,
laß ihn lustig sein.«
»Kam er nicht zu holen dich vor einem Jahr
von meinem Bette?
Kommt der üble Teufel, gebe ich dich fürwahr,
ehe ich dich rette.«
Ich verstand genau:
>Darum, altes Bockfell, bist du mir so grau!<

3.
»Liebe Mutter, höre!«
sprach das Töchterlein,
»wolltest du es bedenken,
er ist schuldlos daran.
Vorschnell nichts verschwöre,
Liebe, laß es sein!
Du schmähst damit den Schenken,
der schön singen kann.
Meiner Treu, es war ihm über Maßen leid:
es tat sein Bruder.«
Die Alte sprach: »Ist keiner voll Verständigkeit,
gäbe ihr es ein Fuder.«
Ich verstand genau:
>Darum, altes Bockfell, bist du mir so grau!<

4.
»Stehst du noch den Leuten
in der Torheit bei?«
So sprach des Mädchens Mutter,
»wie bist du gar blind!
Was soll das bedeuten?
Du bist allzu frei,
und dir gefällt kein Guter.
Ach, unselig Kind!
Glaubst du, dir nur gelte dieses Schenken Sang,
den er da singet?
Du bist nicht die Schönste, die ihn je bezwang
und noch bezwinget.«
Ich verstand genau:
>Darum, altes Bockfell, bist du mir so grau!<

5.
Da hub an zu singen
hell ein Ritterlied
aus rosenrotem Munde
die so stolze Magd.
Ließ es süß erklingen,
das vom Leid sie schied;
recht aus dem Herzensgrunde
sang sie unverzagt.
»Jammer!« rief die Mutter, »was hast du gedacht?
Willst du mir von hinnen?
Schenkenlieder haben närrisch dich gemacht:
du willst entrinnen!«
»So steht mir der Sinn«,
lachte sie, »ich will zur Ernte oder anderswohin.«

 
Sumer wil uns aber bringen
 
Sommer will uns wieder bringen
 
1.
Sumer wil uns aber bringen
grüenen walt und vogel singen,
anger hât an bluomen kleit.
berc und tal in allen landen
sint erlôst ûz winters banden,
heide rôte rôsen treit.
sich fröut al diu werlt gemeine,
nieman trûret wan ich eine,
sît mir diu vil süeze reine
frümt manic herzeleit.
swer vil dienet âne lôn
mit gesange, tuot erz lange
der verliuset manigen dôn.


2.
Ich wil al den liuten künden,
daz si lebt mit grôzen sünden
der ich ie was undertân,
die si hât an mir verschuldet,
sît mîn herze kumber duldet:
des wil sî sich niht entstân.
wie mac sî die sünde büezen?
mir wart nie ein lieplich grüezen;
dâ von wir uns scheiden müezen:
ich wil urloup von ir hân.
swer vil dienet âne lôn
mit gesange, tuot erz lange
der verliuset manigen dôn.


3.
Frouwe, diu mir vor in allen
wîlent muoste wol gevallen,
noch vernemt ein liedelîn:
ir sît âne lougen schoene,
doch ist schoene dicke hoene,
daz ist leider an iu schîn.
nu wil ich mîn singen kêren
an ein wîp diu tugende lêren
kan und alle fröude mêren:
seht, der diener wil ich sîn.
swer vil dienet âne lôn
mit gesange, tuot erz lange
der verliuset manigen dôn.


4.
Werdiu Minne, ich wil dich strâfen,
du bist gegen mir harte entslâfen,
sît ich strûchte in dîniu bant.
ich bin mîner wîse ein tôre:
mîn sanc gât dir für dîn ôre,
dîner helfe ich nie bevant.
hilf, ich bin spilnden ougen
wunt inz herze sunder lougen.
daz tet mir ein wîp sô tougen,
an der ist wol dienst bewant.
swer vil dienet âne lôn
mit gesange, tuot erz lange
der verliuset manigen dôn.


5.
Minne, heile mîne wunden,
diu mir in vil kurzen stunden
von der strâle dîn geschach.
mich hât ob zwein liehten wangen
sêre ir ougen blic gevangen.
ach waz ich dar under sach:
einen munt von roete brinnen!
daz betwanc mich in den sinnen
daz ich sî muoz iemer minnen:
ir blic mir durchz herze brach.
swer vil dienet âne lôn
mit gesange, tuot erz lange
der verliuset manigen dôn.

 
1.
Sommer will uns wieder bringen
Wäldergrün und Vogelsingen,
Blumen auf dem Anger blühen.
Berg und Tal in allen Landen
sind erlöst von Winterbanden,
rote Heiderosen glühen.
Alles freut sich im Vereine,
niemand klagt als ich alleine,
denn die Hochgepriesene, Reine
legt mir auf viel Herzensmühen.
Wer da dienet ohne Lohn
mit Gesange, tut er es lange,
büßt er ein wohl manchen Ton.


2.
Ich will allen Leuten künden,
wie sie lebt in großen Sünden,
die mich stets doch treu gesehen.
Viel hat sie an mir verschuldet,
da mein Herz nur Kummer duldet,
und sie will es nicht verstehen.
Wie mag sie die Sünden büßen?
Nie ward mir ein holdes Grüßen,
so daß wir uns scheiden müssen.
Lasse sie darum mich gehen.
Wer da dienet ohne Lohn
mit Gesange, tut er es lange,
büßt er ein wohl manchen Ton.


3.
Herrin, die Ihr mir vor allen
übermaßen wohlgefallen,
hört ein kleines Lied noch an.
Sicher zählt Ihr zu den Schönen,
doch die spröden Schönen höhnen
voller Hoffahrt. – Schlimm getan!
Jetzt will ich mein Singen kehren
einer zu, die Tugend lehren,
die mag Freude um Freude mehren,
der ich freudig dienen kann.
Wer da dienet ohne Lohn
mit Gesange, tut er es lange,
büßt er ein wohl manchen Ton.


4.
Muß dich, teure Minne, strafen,
die du ganz für mich entschlafen,
seit mich deine Fessel band.
Machst den Sänger dir zum Toren:
Zwar mein Sang kommt dir zu Ohren,
ohne daß ich Hilfe fand.
Hilf! Durch Augenspiel versehrte
mir das Herz die Einzigwerte,
die ich lobte, die ich ehrte,
der ich diente unverwandt.
Wer da dienet ohne Lohn
mit Gesange, tut er es lange,
büßt er ein wohl manchen Ton.


5.
Minne, heile meine Wunde,
die in flüchtiger Sekunde
wie durch Blitzstrahl mir geschah.
Mich hat über lichten Wangen
ihrer Augen Glanz gefangen,
unter deren Bann ich sah
einen Mund in Röte brennen!
Liebe lehrte mich erkennen:
nie kann ich mich von ihr trennen!
Minne, o es geht mir nah.
Wer da dienet ohne Lohn
mit Gesange, tut er es lange,
büßt er ein wohl manchen Ton.

 
Quelle:
©Reclam 1978/Deutscher Minnesang/Nachdichtung von ©Kurt Erich Meurer

 
Haete mich der winter baz verlâzen
 
Hätte mich der Winter
 
1.
Haete mich der winter baz verlâzen,
gen dem sumer sunge ich hübschen sanc.
nû muoz ich mich fröidensanges mâzen,
sît mîn hôchgemüete ist worden kranc.
bruoder tôt birt mir grôze swaere.
wizzet daz ich fröide gar verbaere;
wan daz sterben ist gemeiniu nôt.
ich bin drîer hande schaden
vaste überladen.


2.
Sost ein ander swaere diu mich twinget,
daz die herren muotes sint sô kranc
unde ir tugende nieman dar zuo bringet
daz man singe hovelîchen sanc.
hie bî vor was ir danc niht kleine:
nûst ir lôn den leider ungemeine
den ir herze in fröiden swebte enbor.
ich bin drîer hande schaden
vaste überladen.


3.
Sost der dritte schade mir gar ze swaere:
der ich lange her gedienet hân,
diu tuot rehte als obe ir sî unmaere
swaz ich ir ze dienste habe getân.
waere ir lôn gen mir baz erschozzen,
dienstes waere ich iemer unverdrozzen
unde sunge ir noch vil mangen dôn.
ich bin drîer hande schaden
vaste überladen.


4.
Obe ich nû verdurbe von der schulde
daz der tôt mir ungenâde tuot
unde ich darbe mîner frouwen hulde,
daz waer gar verzagtes mannes muot,
ald umb daz ich der herren schande
sumelîcher hoere in tiutschen lande.
ich wils elliu driu versuochen baz.
ich bin drîer hande schaden
vaste überladen.

 
1.
Hätte mich der Winter in besserem Zustand zurückgelassen,
dann sänge ich dem Sommer ein höfisches Lied.
Doch muß ich mich im Freudengesang zurückhalten,
denn meine Hochstimmung ist zunichte geworden.
Des Bruders Tod bringt mir großen Kummer.
Wisset, daß ich gänzlich ohne Freude bin;
denn das Sterben ist eine allen gemeinsame Not.
Ich bin mit dreifachem Verlust
in überstarkem Maße beladen.


2.
Es gibt einen zweiten Verlust, der mich beschwert,
nämlich, daß die Herren ihre rechte Gesinnung verloren
haben und nicht mehr die guten Eigenschaften besitzen,
um jemanden zum Singen höfischer Lieder zu bewegen.
Früher war ihr Dank großzügig: jetzt aber ist
ihr Lohn denjenigen gegenüber verschwunden, denen
das Herz sich bein Singen in Freude hoch erhoben hat.
Ich bin mit dreifachem Verlust
in überstarkem Maße beladen.


3.
Der dritte Verlust ist mir viel zu schwer:
Diejenige, der ich lange gedient habe,
die tut jetzt genau so, als ob ihr gleichgültig wäre,
was ich ihr zu Diensten getan habe.
Wäre ihr Lohn mir gegenüber besser ausgefallen,
dann würde mich der Dienst nicht verdrießen
und ich sänge ihr noch viele Lieder.
Ich bin mit dreifachem Verlust
in überstarkem Maße beladen.


4.
Falls ich nun etwa daran zugrunde gehe,
weil der Tod mir Böses zufügt
und weil ich die Gnade meiner Dame entbehre,
so wäre das eine ganz und gar unmännliche Gesinnung;
deswegen, weil ich von der Ehrlosigkeit der Herren
in deutschem Land häufiger höre.
Ich will bei allen dreien mich um Besseres bemühen.
Ich bin mit dreifachem Verlust
in überstarkem Maße beladen.

 
Quelle:
©Reclam 1993 Deutsche Gedichte des Mittelalters/Ausgewählt, übersetzt und erläutert von ©UlrichMüller/©Gerlinde Weiss

 
Komen ist der winter kalt
 
Der kalte Winter ist gekommen
 
1.
Komen ist der winter kalt,
- wâfenâ der leide! -
der uns twinget bluomen unde klê.
loubes hât er vil gevalt.
ich was ûf der heide,
dâ siht man den rîfen und den snê.
wê mir, wê, wes fröiwe ich mich
daz ich aber singe?
hæte ich sinne, sô swig ich.
wan daz mich gedinge
fröiwet, son gesunge ich niemer mê.
hundert wundert wâ si sî.
in dem muote ist mir diu guote
stæteclîchen bî.


2.
Wer gesach ie schœner wîp
alder baz geschaffen
danne als ich si zeinem mâle sach?
ir vil minneclîcher lîp
huop gen mir sîn klaffen.
hœret wie diu tugende rîche sprach.
»ach und ach, wie tump ir sît,
welt irz iemer trîben?
iuwer dienst niht fröide gît
hôhgemuoten wîben.
gât, ir tuot uns michel ungemach.«
hundert wundert wâ si sî.
in dem muote ist mir diu guote
stæteclîchen bî.


3.
Dô diu rede ergienc alsus,
mir begunde leiden,
wan mir was ir hulde gar verseit.
ich sprach »solte ich âne kus
hinnân von iu scheiden?«
sî spach »lose, ern weiz, wes ars er treit!
mir ist leit daz iemer man
sol dar an gedenken
alder der niht fuoge kan.
jâ liez ich in henken
nû ê daz er ruorte an mîn kleit.«
hundert wundert wâ si sî.
in dem muote ist mir diu guote
stæteclîchen bî.

 
1.
Der kalte Winter ist gekommen
- weh über dieses Leid! -
der uns mit Gewalt Blumen und Klee fortnimmt.
Viel Laub hat er herabfallen lassen.
Ich war auf der Heide,
da sieht man schon Reif und Schnee.
Ach, aber ach, worüber freue ich mich eigentlich,
daß ich wieder singe?
Wäre ich bei Verstand, so würde ich schweigen.
Wenn mich nicht die Hoffnung
nährte, so sänge ich niemals mehr.
Hundert wundert, wo sie denn sei:
in meinem Sinn ist die Edle
beständig bei mir.


2.
Wer sah jemals eine Frau schöner
oder besser geschaffen
als so, wie ich sie einmal erblickte?
Lieblich wie sie war,
begann sie mich heftig zu schelten:
Hört, wie die Edle da sprach:
»Ach aber ach, wie töricht ihr seid,
wollt ihr es immer so treiben?
Euer Minnedienst, bereitet
hochgesinnten stolzen Frauen keine Freude.
Geht, ihr macht uns nur großen Verdruß.«
Hundert wundert, wo sie denn sei:
in meinem Sinn ist die Edle
beständig bei mir.


3.
Als diese Rede so erging,
da wurde mir traurig zumute.
Denn sie sprach mir ihre Huld so gänzlich ab.
Ich sagte: »Sollte ich ohne Kuß
von euch hinweg gehen?«
Sie sagte: »Höre! Er kennt wohl seinen eigenen Arsch nicht!
Mir ist es unerträglich, daß jemals ein Mann
auch nur daran denken sollte,
noch dazu einer, der kein Benehmen hat.
In der Tat, ich ließe ihn auf der Stelle henken,
bevor er auch nur mein Kleid anrührte.«
Hundert wundert, wo sie denn sei:
in meinem Sinn ist die Edle
beständig bei mir.

 
Quelle:
©Fischer TB Verlag 2004/Minnesang/Herausgegeben, übersetzt von©Helmut Brackert

 
Der sumer mit gewalde hât
 
Der Sommer hat mit Macht
 
1.
Der sumer mit gewalde hât
bekleidet walt und ouwe.
der anger wol beblüemez stât
in süezem meientouwe.
diu heide breit hât grüniu kleit
an sich geleit, ist mir geseit,
in wunneclîcher schouwe.
mîn frouwe ist guot, swie sî doch tuot mich ungemuot.

2.
Mîn ungemüete ist gar ze grôz,
als ich iu wil bescheiden.
ich stên ir helfe leider blôz,
diu mich in senden leiden
mit fremder tât in allen rât,
swiez mir ergât, nu lange lât
als einen wilden heiden.
mîn frouwe ist guot, swie sî doch tuot mich ungemuot.

3.
Ich lobe ir kiusche und ouch ir lîp,
ir schoene und ir gebâren.
in sach nie minneclîcher wìp
bî allen mînen jâren.
swie daz mich nie ir lop vervie,
doch sanc ichz ie dort unde hie
swâ ie die besten wâren.
mîn frouwe ist guot, swie sî doch tuot mich ungemuot.

4.
Sol ich niht herzeliep bejagen
noch hôhe fröude erwerben,
sô mac ich doch von schulden klagen
und muoz von leide ersterben.
kumt ir gerich sô grimmeglich
als über mich, sô scham si sich,
sol ich alsus verderben.
mîn frouwe ist guot, swie sî doch tuot mich ungemuot.

5.
Mich bant ir liehter ougen blic
und wil mich niht enbinden.
ich want mich in ir minne stric
und kan mich niht entwinden.
sus wart ich wunt zer selben stunt.
hei rôter munt, nu tuo mir kunt:
sül ich genâde vinden?
mîn frouwe ist guot, swie sî doch tuot mich ungemuot.

 
1.
Der Sommer hat mit Macht
Wald und Aue ausstaffiert.
Der Anger steht mit Blumen geschmückt
im sanften Tau des Maien.
Die breite Heide hat sich grüne Kleider
angelegt – wie mir gesagt wurde -
in wunderbarer Manier.
Meine Herrin ist edel, obwohl sie mich doch unglücklich macht.

2.
Mein Verdruß ist übergroß,
wie ich euch zeigen werde.
Ich erhalte leider keine Hilfe von ihr,
die mich in Sehnsuchtsschmerz
mit unverständlichem Tun in allen Dingen,
wie immer es mir ergeht, nun lange mich
wie einen wilden Heiden behandelt.
Meine Herrin ist edel, obwohl sie mich doch unglücklich macht.

3.
Ich preise ihre Keuschheit und ihren Körper,
ihre Schönheit und ihr Auftreten.
Ich sah nie eine liebenswertere Frau
so lange ich lebe.
Obwohl ich doch nie ihr Lob erhielt,
sang ich es immer – hier und dort -,
wo immer die besten waren.
Meine Herrin ist edel, obwohl sie mich doch unglücklich macht.

4.
Soll ich die Herzallerliebste nicht bekommen
und auch keine große Freude erlangen,
so kann ich zu Recht klagen
und muß aus Kummer sterben.
Kommt ihre Strafe so hart
über mich, so schäme sie sich,
soll ich auf diese Weise zugrunde gehen.
Meine Herrin ist edel, obwohl sie mich doch unglücklich macht.

5.
Mich fing der Blick ihrer strahlenden Augen ein,
und sie will mich daraus nicht entlassen.
Ich wandte mich in den Banden ihrer Liebe
und kann mich daraus nicht befreien.
So wurde ich krank zur gleichen Zeit.
Hei, roter Mund, nun tu mir kund:
soll ich Erhörung finden?
Meine Herrin ist edel, obwohl sie mich doch unglücklich macht.

 
Quelle:
©Marix/ Deutsche Lyrik des Mittelalters/2005/Herausgegeben und kommentiert.©Manfred Stange